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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 8 (2. Januarheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0157
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DerLehrer: Und jede ihre Lr-
zicher. Erst war's die Kirche, schlecht
und recht, dann kam der Staat.
And dann eine Zeit, in der es an
jeder großen nnd umfassenden Er-
zichung mangelte; die Zeit, da wir
aus einem Vauern- und Kleinbür-
ger- zu einem Industrievolk wur-
den. Man ergab sich kleinen Er-
ziehern und Einzelautoritäten. Es
fallen Ihnen ihrer hundert ein,
wcnn Sie sich besinnen. Sich selbst
zu erziehen: dazu fehlt den Dcut-
schen vor allem noch die Orientie-
rung in den neucn Vcrhältnissen.
Diese Zeit der zahlreichcn, engen,
widcrstreitenden Autoritäten und
Autoritätchen schildert Wolgast als
Gcgenwart. Vielleicht dürfen wir
schon als das Gegenwärtigste das
Streben nach einer neucn, aus uns
selbst, aus der Nation und ihrem
Leben gcborenen Erziehung empfin-
den, die fernab von allen Partei-
und Sonderautoritäten nur ein
Maß sucht: den lebendigen Men-
schen. Das gilt's: Dem jungen
Menschen zu helfen, daß er sich in
den Mechanismus unsres
heutigen Lebens einfügt,
während er doch möglichst
wenig von sich und seinem
besten Wesen dabei ver-
liert! Daß er jenem Mechanis-
mus nicht allein dienen, son-
dern ihn auch gestalten lernt!

Der Iurist: Dabei könnten
sich unsre Gedankcn finden. Wcnn
nur nicht aus dieser großen Auf-
gabe der ganzen Nation wiedcr ein
Spezialberuf gemacht würde!
Mich dünkt: übcrall und an allcn
Stellen wäre eine Arbeit zu lei-
sten, wie Sie sie hier schildern. Aber
nicht der Erzieher, oder der Lehrer,
noch weniger die Schule allcin hat
die Möglichkeit und die Pflicht, der
Nation zu dieser Selbständigkeit im
höchsten Sinn«, zu dieser Bcherr-
schung des heutigen Lebens zu ver»

helfen. Ieder Veruf und jeder
Stand hat lebendige Kräfte zu ver-
walten und weiterzubilden, und
wären diese nicht überall im Wir-
ken — in der ganzen Nation und in
jedem Berufe — so vermöchte sie keine
Erzieherkunst zu wecken. Da scheint
mir der Fehler dieser ganzen Ge°
sinnung zu liegen. Es handelt sich
nicht um eine Teil- oder Fach- oder
Berufsaufgabe, nicht um die Ver-
besserung der Schule oder der
Schulen oder des Erziehungs-
wesens oder irgendwelcher Institu-
tionen, sondern um eine kräftige
Weiterbildung der nationalen Ar°
beit auf allen Gebieten, prakti-
schen wie rein geistigen.

Der Lehrer: Ich wünschte dcm
Buche lauter solche Leser wie Sie!
Sie verbinden Ihren Beruf mit
einer Idee . . .

Der Iurist: Nicht mehr und
nicht weniger als jeder Kaufmann
oder Beamte, der seine Arbeit tut.
Wir sprechen unsre Berufsideen nur
nicht so häufig aus wie die — Er-
zieher.

Der Lehrer: Bin ich nun
der „Idealist" mit Anführungszei-
chen oder sind Sie's? Sie halten
jene Berufsideen (die alle in der
Idee der großen Verantwortlichkeit
vor der Nation zusammenlaufen)
schon für so lebendig, daß sie nicht
mchr propagiert, nicht ausgespro-
chen zu werden brauchen? Dann
haben wir die Rollen getauscht.

Der Iurist: Wir haben uns
also nicht so ganz verständigt.

Der Lehrer: Aber einander
verständlicher gemacht. Glauben
Sie nicht jctzt, daß ein solches Sich-
verstehen zwischen den Berufen viel
dazu beitragen könnte, die Berufs-
ideen zu stärken, zu klären, abzu-
schleifen, zu organisieren?

Der Iurist: Das kann ich
Ihnen zugeben.

Hermann Ullmann

2. Ianuarheft (9ll (25
 
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