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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 9 (1. Februarheft 1911)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0219
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Ietzt erst ist em Einblick in sein ganzes Werden und Wesen möglich.
Es war Liliencrons gutes Recht, bei Lebzeiten solchen Einblick höch-
stens den paar Allervertrautcstcn zn gönnen. Der Vcrlauf seines äußern
Lebens war anch wirklich nicht danach angetan, ihn zu wachsender Ver-
trauensseligkeit zu erziehen. Nicht recht verständlich bleibt nur in Richard
Dchmels geistreicher Einleitung der wenig liebenswürdige Ton gegen
die zahllosen Verehrer des Dichters, die diesen treuherzig so auffaßten,
wie er sich der Sffentlichkeit gegenüber meistens gab: als eine vor-
nehmlich heiter rüstige Natur, als ein „großes Kind". Nnd noch weniger
begreift man die Gereiztheit gegen die literarische Kritik.

Denn die Menge der Verehrer hat nun doch schon seit manchem Iahr
dem „großen Kind" Genie-Ehren erwiesen wie kaum einem deutschen
Lhriker vorher. Und die literarische Kritik, zuerst freilich nur durch
wenige, längst aber durch alle Ernstzunehmenden vertreten, hat ihn
von Anfang an gefördert, hat sich mehr und mehr mit überschwänglicher

um diese Zeit in persönlichen Veziehungen, und in welchen? Es ist
entzückend, mit wie feinem Künstlergefühl er oft über dichterische, insbe-
sondere lhrische Werte, zumal über Einzelwerte spricht, — und ist ver-
blüffend, wie der Maßstab sich augenblicklich ändert, wenn Beziehungen
von Mensch zu Mensch auf ihn abfärben. Das zeigt sich schon bei
seinen Urteilen über Dehmcl selbst, mit dem ihn außer der gemeinsamen
Kunst auch eine in vielem verwandte Lebensauffassung, ein Stück Lebens-
gemeinschaft und der Dank für dauernde Hilfeleistungen verband —
„sprudelt" Liliencron, so ist Dehmel der Goethen Ebcnbürtige, spricht
er einmal ruhig überlegt, so nennt er ihn nicht einmal unter den großen
nachgoetheschen Lyrikern, als deren erste ihm (wie uns) Mörike und Keller
erscheinen. Viel mehr aber zeigt sich's noch in all den andern Fällen,
wo die literarischen „Unterlagen" einer Begeisterung nicht nnr klcincr
als bei Dehmel sind, sondern für besonnene Köpfe kaum findbar klein.

Wer diese Briefe genießen will, darf aber nicht „besonnen" sein.
Eanz im Ernst: so wenig, wie wenn er ein Kunstwerk genießen will oder
die Lcbensfülle der Natur. Wer unsern Poeten „besonnen" nimmt,
„wörtlich" nimmt, wird seiner Verehrung an Dutzenden von Stellen
Beulen stoßen. „Welche Zügellosigkeit im Geschlechtlichen!", „welche skanda-
löse ewige Pumperei!", „welche Naivitäts-Poserei bei zynischem Geläch-
ter über die, so's glauben!", „welche skrupellose Neklamemacherei, daß
es selbst den Verlegern zu toll wird!" Der „Besonnene" kann all das
aus seinen Briefen „belegen". Aber schon die Geschichte mit „Nord und
Süd" ist ein Beispiel dafür, daß Liliencron vor dem wirklich Unvor-
nehmen doch zurückscheute, auch wenn er im Spiel damit die ersten Schritte
schon getan hatte. Ich glaube: die Briefsammlung wird in den weiten
Kreisen das schwächen, was Liliencron selbst den Liliencronrummel nennt
— das wird kein Unglück sein. Denen aber, die von je nicht einen Aber-
menschen in ihm sahen, sondcrn einen Menschen, zu dem auch das Men-
scheln gehört, aber einen echten Vollblutmenschen, eine „Natur" im
Goetheschen Sinne, einen, dem gcrade unsre Aberzivilisation so viele
Grüße Frischluft zu danken hat — ich meine, die werden die Kehrseite der
Medaille wohl einmal ansehen, aber deshalb nicht vergessen, daß die
andre Seite die Hauptseite bleibt. A

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