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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 9 (1. Februarheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0251
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nalistische Intrige, Verworrenheit,
Wahn und Verzweiflnng den
sichern Weg der Wahrheit und
Mcnschlichkeit gehen. Sie tat es
und ward darüber zur Mit- und
Weiterdichterin, so daß die Rufe
nach ihr sich zu Schluß der fünf
Akte mit Recht immer wieder
mit denen nach dem Verfasser
mischten.

Der Zickzackweg, der dem Dra-
matiker Hauptmann nun einmal
vorgeschrieben zu sein scheint, und
der es auch seinen besten Freun-
den so schwer macht, den künstle-
rischen Lharakter in ihm zu er-
kennen, hat den Dichter der „Gri-
selda", der „Geisel Kaiser Karls",
der „Pippa" und der „Elga" aus
dem Reiche romantischer Märchen-
phantasie zurückgerufen in die
Stuben des norddeutschen Natura-
lismus, darin seine Kunst zuerst
allein heimisch und stark zu sein
schien. Eduard Stucken geht
den Weg strengen, geradlinigen
Stils weiter, den sein vor Iahres-
frist zuerst aufgeführtes Grals-
drama „GawLn" einschlug. Auch
sein „Lanzelot", dessen sich wie-
derum (in nicht gerade vollendeter
Darstellung) die „Kammerspiele"
annahmen, ist mehr wort- und
verskünstlerische Paraphrase eines
altüberlieferten, altgeweihten Stof-
fes als dramatische Nenschöpfung
ercrbter Idee und nnveralteter
Motive. Kultur, Geschmack und
Bilderfreude vereinigen sich anch
hier wieder, einer endlos langen
Kette doppelt gereimter altepi-
scher Verse für ein paar Stnnden
den Anschein einer dramatischen
Angelegenheit zu gebeu. Und im°
mer, wenn man anfangen will,
über die Trivialität einzelner
Wendungen, über die Langatmig-
keit der Reden und Bcschrcibun-
gen, über die blutarme Wesen-
losigkeit der Gestalten zn zürnen,

kommen Haltung und Gebärden
eines poetischen Intellekts zutage,
die auch dem Nngeduldigsten Re-
spekt abnötigen, Respekt vor dicser
Hingebung an einen in seincr
mittelalterlichen Mhstik erstarrten
Kult. Aber ist diese Hingebung für
einen Dramatiker der rechteDienst?
Nimmt er dem alten Heiligtum
nicht vielmehr etwas von seiner
eingebornen Weihe und seinem er-
probten Wert, wenn er die Genüg-
samkeit an der novellistischen Er-
zählung des Geschehens durch die
aufgezwungene Maske der drama-
tischen Form zerstört? Eine dra-
matische Dichtung, die so wie diese
die Aufmerksamkeit und die bald
stauncnde, bald entsetzte Bewunde-
rung auf das Wort konzentriert,
wird schwerlich jemals lebendigen
Anteil an der dramatischen Pro-
duktion der Gegenwart oder der
Iukunft gcwinnen.

Die Wort- und Verskunst Stuk-
kens trägt ein romanisches Gesicht,
ihr Lyrismus schöpft aus der Vild-
fülle der mittelalterlichen Grals-
welt balladenhaften Klang. Aber-
trägt man diescn erweichten Lyris-
mus ins östliche, ins modern Rus-
sische, so wird er ganz Musik und
Melodie. Das kann man bei Leo-
nid Andrejews Schauspiel
„Studenteuliebe" erfahren, dem
das Kleine Theater die mittler-
weile zur feinen Spezialität aus-
gebildete Kunst seincr leisen, sorg-
sam abgetönten Darstellungsart zu-
teil werden ließ. Das schwer-
mütige russische Volkslied geht
durch diese drei hairdlungsarmen
Akte, die am Ende zwei Enterbte,
Stiefkinder des Glückes, den bet-
telarmen Studenten und die ver-
kaufte Dirne, in wortloser Licbe
einauder in die Arme trciben.
Aber etwas Ncues ist hinzuge-
kommcn, das die Naivität dcs
Volksliedes in dieser Inbrnust noch

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