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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 9 (1. Februarheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0265
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„seelischer Leere", das ^bewußt oder
unbewußt nach irgendeiner Erfül-
lung tastet, einer Erfüllung, die
durchaus nicht immer auf einem
bestimmten, deutlich erkannten
Wege erstrebt wird". Die sozialisti-
sche Bewegung und Weltanschau-
ung allein hat die Befriedigung, so
starke organisatorische und gemein-
schaftbildende Wirkungen von ihr
ausgegangen sind, dennoch nicht zu
geben vermocht: sie ist offenbar zu
realistisch dazu, sie läßt wesentliche
Seelenkräfte unbeschäftigt, wo sie
im Bewußtsein der Massen ihren
messianischen Charakter eingebüßt
hat und zur politischen Räson mehr
und mehr einschrumpft. Eine
„Freude an allem Fernliegenden,
die um so stärker wächst, in je
engerm Amkreise sich das tägliche
Leben abspielt", „ein unklarer
Drang nach etwas Höherm, Anend-
lichem, nach einem Losgerissenwer-
den von allen Lcbenswirklichkeiten":
so werden die seelischen Bedürfnisse
des deutschen Proletariats von
sozialdemokratischer Seite charakte-
risiert, von Willy Zepler in den
„Sozialistischen Monatsheften"
(MO, 2tz. Sie suchen, heißt es dort,
Ausdruck in dem übcrall hervor-
tretenden, „von bestimmten Inter-
essen völlig freien" Kunst- und Bil-
dungshunger, der die volkstümlichen
Anterhaltungsabende und die Auf-
führungen dcr Volksbühnen auch
bei den schwierigsten Programmen
und oft gerade bei diesen füllt. Ge-
rade daß die Darbietungen bei sol-
chen Gelegenhciten oft das Auf-
nahmevermögen üer Zuhörer weit
überschreiten, zeigt, was ihre An-
ziehungskraft auf den Arbeiter aus-
macht: die unbestimmten erhabenen
Empfindungen religiös - ethischer
Art, die durch hohe Kunst oder die
Behandlung allgemein geistiger
Fragen in ihm ausgelöst werden.
Dem Arbeiter müssen ja gerade

solche religiös-ethische Bedürfnisse
am meisten sich aufdrängen: er ist
am schärfsten getrennt von den alten
sicheren Äberlieferungen, er ist in
seinem täglichen Leben von wirt-
schaftlichen, sozialen, geistigen Pro-
blemen umringt, und von seiner
Lebenserfahrung aus muß unsre
Zeit am meisten dem Ehaos nahe
erscheinen. Daß diese seelische Stim-
mung vor allem in eincr Oberschicht
sich äußert, ist kein Beweis dafür,
daß sie nicht in den Tiefen der
Masse ihre Wurzeln haben könnte.
„Die Sehnsucht nach einer befriedi-
genden Weltanschauung im Prole-
tariat, wie sie aus all diesen inne-
ren Entwicklungen heraus entstan-
den ist, wird vermutlich mchr und
mehr zu einer philosophischen Am-
kehr innerhalb des Sozialismus
führen."

Einer solchen Wandlung dient
aufs beste die Forderung, die in
bezug auf die praktische Ausbildung
von Parteiführern und Kämpfern,
also die Parteibildung im engern
Sinne, an der erwähnten Stelle er°
hoben wird: diese neben den allge-
meinen Bildungsaufgaben völlig
unabhängig einhergehende, bestimmt
umgrenzte Vildungsarbeit solle
nicht mit fertigen Allgemeinan-
schauungen, sondern mit der Ver-
mittlung sachlichen Wissens be-
ginnen. Dagegen werde allenthalben
in den Parteikursen gefehlt. Die
Folge sei geistige Anselbständigkeit,
Mangel an Arteilsfähigkeit, Erstar-
rung in Doktrinen. Was hier für
die sozialdemokratische Parteibil-
dung gewünscht wird, wäre freilich
den andern Parteien ebenso zu
wünschen: auch sie erziehen zur Au°
selbstäirdigkeit, zur Einseitigkeit,
zum Erstarren. And vielleicht muß
ja alle eigentliche Kulturarbeit zwi-
schen den Parteien geschehen, weil
eine jede irgendwelche Dogmen
setzen muß.

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