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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 11 (1. Märzheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0428
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Thema kommandicrt, sei es nun
„Der Herbst" oder „Die Hauskatze"
oder „Die Schilderung der Feuers-
brunst in Schillers Glocke" — und
kein Mensch fragt danach, ob denn
auch irgendein herbstliches Ereignis
oder eine Katze oder die Feuers-
brunst in der Glocke irgendeinen
Eindruck auf sie gemacht habe. D i e
innere Teilnahme und die
innere Beherrschung der
Situation wird genau in
der gleichen Weise ausge-
schaltct, wie bei der Schund-
literatur; sie werden unter die
Bedingungen des Schundlitera-
ten gestellt; sie sind „Zwangsschrift-
steller" wie er, die wie er auf Kom-
mando die Feder führen. Brauchen
wir uns da noch zu wundern, daß
sie einen dürftigen Schund zusam-
menschustern, während ihre kleinen
Mäuler so herzhaft und so farbig
zu plaudern wissen, wenn sie von
dem erzählen dürfen, was ihr klei-
nes, ahnungsvolles Herz bcwegt?
Und genau in dcr gleichen Weise
sind auch die Autorcn der zünftigen
Aufsatzbücher gestellt; auch diese
„Musterstilisten" schreiben über die
„Themen", die ihnen der Brauch der
Schule stellt, auch sie schreiben über
die „Hauskatze", statt über die Kahe
zu schreiben, die auf ihrem Hof
spielt, auch sie schreiben über „den"
Herbst, statt eine bestimmte herbst-
liche Anschauung zu bringen, auch
sie verwandeln Schillers Schilde-
rung einer Feuersbrunst in phhsio-
gnomiclose Schundlitcratur, statt
uns mitzuteilen, wie es damals war,
als das Haus des Schneidermeisters
Lehmann in der Kleinen Hafengasse
brannte; auch bei ihnen fehlt der
lebenzeugende innere Konncx mit
ihrem Stoff, auch sie arbeiten auf
das Kommando eines toten Brauchs
und produzicren darum Schundlite-
ratur, die den Kindern als Muster
vorgehalten wird, damit sie wieder

Schundliteratur produzieren lernen,
allgemein gesprochen also: Der
Schulaufsatz und die Schundlitera-
tur haben den gleichen pshchologi-
schen Ursprung, beide müssen darum
auch zu den gleichen erbärmlichen
Erscheinungen führen. Wer neben
diesem theoretischen noch den prakti-
schen Beweis will, muß sich im
Buch einmal die Gegenüberstellung
von „Musterstilisten" und Schund-
literatur ansehen.

„Aber mein Gott, die kleinen
Iungen und Mädel sind doch keine
Dichter und können darum doch auch
nicht als Dichter genommen wer-
den." Zugcgeben, daß sie im Sinne
der Erwachscnen keine Dichter sind
(in ihrem besonderen Sinne
dichten sie in ihren Spielen ja eine
ganze Welt zusammen), aber weil
sie keine Dichter sind, braucht man
sie noch immer nicht unter die Be°
dingungen von Schundliteraten zu
stellen. Unsre Kinder sind auch keine
Naturforscher, oder doch nur in
demselben kindlichen Sinn, in dem
sie auch Dichter sind, wenn man
sie aber in das Verständnis einer
Naturerschcinung hineinführen
will, muß man sie genau unter die
gleichen Bedingungen stellen, unter
denen auch der Forschcr zur Er°
kenntnis kommt. Oder geht man in
der Phhsikstunde noch den alten
scholastischen Weg? Gibt man dem
Kind etwa eine Reihe von „Ge°
setzen" zum Auswendiglcrnen, zu
denen es dann die Beispiele zusam-
mensuchen muß? Geht man nicht
vielmehr von der Erscheinung, von
der Anschauung, vom Experiment
aus, um dann das Kind zur allge-
meinen Erkenntnis hinaufzufüh-
ren? Wenn man nun im Kind
die Sprache weckcn will, muß
man genau in der gleichen Weise
verfahren; man muß es unter die
Bedingungen dcs Dichters stel-
len, nicht aber unter die Bcdingun-

(. Märzhest M 36(
 
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