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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 11 (1. Märzheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0429
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gen des Schundliteraten. Eine An-
schauung des Lebens, die unsre
Seele trifft und sich dadurch als
innere Anschauung in der Phan-
tasie behauptet, ist der Urquell aller
sprachlichen Kraft. Aus dieser
Quelle muß das Kind trinken, wie
der Dichter aus ihr trinkt, und wie
jedes menschliche Wesen aus ihr
trinkt, soweit es aus sich heraus
eine sprachliche Darstellung schafft.
Wir aber tun genau das Gegen-
teil; wir schalten mit systematischer
Gründlichkeit die innere Anschau-
ung aus und lassen das Kind über
„Themen" schreiben, die so allge-
mein sind, daß sie überhaupt nicht
angeschaut werden können. Eine be-
stimmte herbstliche Erscheinung läßt
sich in der Phantasie festhalten, „den
Herbst" an sich aber vermag nie-
mand zu schauen, Goethe so wenig
wie die „Musterstilisten" der Auf-
satzbücher; die Katze, mit der das
Kind zu Hause spielt, vermag es sich
vorzustellen (und wie gut!), von
ihr weiß es auch allerhand Nettes
zu erzählen, „die Hauskatze" aber
ist ein Begriff, und Begriffe
sind Abstraktionen, die man als
solche nicht anschauen kann. Ach,
wir sind gründliche Leute: wie wir
im schildernden Aufsatz (der im Kin-
desalter immer das Wesentliche
bleiben wird) alle Natur morden,
so gehen wir auch im logischen Auf-
satz genau den umgekehrten Weg
der Natur. Wir gewöhnen den
Kindern nicht nur shstematisch das
Sehen ab, da wir einmal bei der
Arbeit sind, nehmen wir ihnen
auch gleich das Dcnken, damit
sie nicht etwa später im Leben durch
eigenes Nachdenken hinter die er-
lauchten Künste unsrer Methode
kommen. Wie entsteht denn im
Forscher, im Bauern, im Seemann,
im Iäger eine Erkenntnis? Doch
wohl, indem er aus einer großen
Vielheit von einzelnen Be°

obachtungen zu einer allge-
meinen Erkenntnis gelangt,
also von der Vielheit der Erfahrung
zur Einheit der Erkenntnis. Der
genialste Denker wie der einfachste
Mann denken auf diese Weise; ein
menschlicher Kopf kann auf einem
andern Wege überhaupt nicht zu
einer Erkenntnis kommen, aber der
logische Schulaufsatz vermag das
ganz ausgezeichnet. Er gibt dem
Kind eine fertige Erkenntnis in die
Hand, zum Beispiel die schähens-
werte, daß aller Anfang schwer ist,
und dann darf das Kind zu der
bereits vorlicgeuden Erkenntnis die
Beispicle zusammensuchen. Er geht
umgekehrt wie dcr menschliche Ver-
stand von der Einheit zur Vielheit,
er läßt die einheitliche Erkenntnis
in die Vielheit der Einzelbeobach-
tungen zerschlagen, wie das Kind
im schildernden Aufsatz die fertige
Schilderung dcs Erlkönigs in die
Stoffscherben einer „Inhaltsan-
gabe" zerschlagen muß. Warum
auch nicht? Wenn man das Kind
eine wertvolle Vase zerschlagen läßt,
hat man der bildenden Kunst einen
großen Dienst erwiesen, und wenn
man ihm einen allgemeinen Satz
aufdrängt, den es nur noch in ge-
bundener Marschroute zu be-
legen hat, hat man sein Eigen-
denken kräftig gestärkt. Schade nur,
daß Künstler und Philosophen gc-
neigt sein werden, hicr mehr einen
Mord als eigcntlich eine Erzichung
zu erblickcn.

Die Anregungen, dic diesem Buch
entströmen, sind so mannigfaltig,
daß ich mich bcscheiden muß. Nur
soviel sei noch gesagt: Die prakti-
sche Durchführbarkcit ist von diesen
beidcn Praktikern bis ins einzelne
hinein bewiesen und mit zum Teil
cntzückenden Kinderaufsätzen be-
legt. Ich weiß persönlich und
menschlich von dcn Verfassern
nichts und weiß darum auch nicht,

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