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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,1.1928-1929

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Heft 1 (Oktoberheft 1928)
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Rang, Bernhard: Politik und Beruf
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Michel, Wilhelm: Bibelgespräch
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https://doi.org/10.11588/diglit.8885#0084

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Zur Berantwortung aufrufen, aber nicht im Sinne großer Programme, sondern im
selbft-verantwortli'chen, das Hier und JeHt befragenden Tun, dag ift der Sinn dieses
ernften Versuchs, Politik und Leben wieder zu verbinden, in der Zeit und für die Zeik
„aus dem Glauben" zu wirken, Schritt für Schritt voranzugehen auf der „Werk-
brücke" des GlaubenS.

Bibelgespräck)*

Von Wilhelm Michel

artin Buber rief im August eine kleine Schar von Freunden nach Ponte Tresa

^^^am Luganer-See, um mit ihnen eine Reihe von Dingen und Fragen zu be-
sprechen, die im letzten Bande seiner Bibelübersetzung, den Büchern Samuel, eine
Rolle spielen. Man saß auf einem Platz in halber Höhe des Berges, unter Kirsch-
lorbeer und Kaftanien, im Angesicht deö Sees; Martin Buber laS und crklärte, for-
derte Meinung unö Mithilfe von den Hörern, und so entfaltete sich das große, im
Buch Samuel erzählte Gefchehen zusamt den Fragen, die sich da hineinfchlingen: den
Fragen nach dem Wesen des „Richters" und des „Königs", der „Salbung" und der
Begabung mit dem „Geifte Gottes", der „Gotteskindfchaft" und des MessianiSmuS.
Mir liegt daran, hier vor allem das große politifch-hiftorifche Gefchehen, das im
Buche erzählt ift, hervorzuheben, den llbergang von der Theokratie zum Kö-
nigtum. Man verfteht daS Bedeulende dieseS ÜbergangeS nur dann, wenn inan
ihn als ein Ereignis der menfchlichen Urgefchichte und zugleich alö ein ewig wieder-
holbares, ewig sich wiederholendeS Gefchehen zu fassen weiß; wenn man begreift, daß
sich hier ein Volk des so unerhört fernen Übergangs von der paradiesifchen Ordnung
zur „Organisation" als einer Tatsache seiner eigenen Gefchichte noch deutlich erinnert.
Was ift Theokratie, Herrfchaft Gottes über ein Volk? Theokratie ift eine Ordnung
der Freiwilligkeit und der wahren, von unbenannten Lebenskräften noch genährten
An-Archie; sie ift das Stehen im eigentllchen Leben, in der öirekten unö allseitigen
Bezogenheit; sie ift der Zuftand des Daseins in der Fülle, ,'m Vorhof deS ParadieseS;
des noch vollkommen ungebrochenen, gefchöpflich richtigen DaseinS, in dem sich der
Geift noch nicht von der Natur gefchieden hat. Ein Zuftand, in dem das Leben des
Menfchen noch völlig organisch i ft und daher der Organisierung nicht bedarf.
(Und man darf hierbei ruhig auch an die modernen Vorftellungen einer anarchifchen
Ordnung denkeu und insbesondere an die häufig zu beobachtende Erfcheinung, daß eine
solche freiwilll'ge Ordnung im Frühftadium von Bereinigungen, Gruppen, Be-
wegungeu aufzutreten pflegt, als Ausdruck der faktifchen, lebenbeftimmenden Ergrif-
feuheit jedes Einzelnen vom gemeinsamen Geift.) Jndem also das Volk Jsrael die
Theokratie zu realisieren versucht, sucht es das ungebrochene und eigentliche, das frei-
willi'g geordnete und gottunmittelbare Leben aus dem Paradies in die Hiftorie hinüber

zu retten.

Der Versuch mißlingt, wie er ausnahmslos allen Völkern der Erde mißlungen ift. Er
muß mißlingcn, weil der Menfch fchon längft auS dem Paradies auögetrieben ift,
d. h. weil er fchon längft aus der spontanen Ordnung und aus der direkten Teilhabe
an der Lebensfülle herauSgeraten ift. Wohin? Jn das mittelbare, in das uneigent-
liche, indirekte Leben. Schon die verfchiedenen Fälle von Rebellion, die im Buch der
Richter erzählt werden, lassen erkennen, daß die alte Ordnung nicht mehr in ihrer
ungebrochenen Spontaneität befteht: fchon ift in ihr Raum geworden für den „freien
Willen", auch für den Willen zur Durchbrechung der Ordnung. So gehen denn die
Alteften des Vvlkes zu Samuel, dem letzten Richter, und fordern von ihm einen
König. Sie spüren, sie erfahren, was seitdem die Menfchheit in Millionen Fällen
' Oie Bibelzitnte dieses Aufsatzes sind der Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz
Rosenzweig, Derlag Lambert Schneider, Berlin, entnommen.

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