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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,1.1928-1929

DOI issue:
Heft 4 (Januarheft 1929)
DOI article:
Simmel, Gertrud: Aphorismen über Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.8885#0271

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LvN8iVLiri' XXXXH.

Llphorismen über Kunst

Von MarieLuiseEnckendorff

l^unstwerke, Dichtungen wirken auf das Wesen, auf den rnekaphysifchen Ilr-
'^^grund, der das LeHte in uns ausmachk, auf das, was jeden von nns als
ein Wesen konsiikuierk; anf ein Lehkes in uns wirkk Kunftform, Gesialkekheit.
Inhalke, die diese Form nichk erreichen, vermögen das nichk, sie fassen uns
einzelner an. Vermöchken sie, rein als Inhalke, das Wesen anzurühren, so
brauchke Kunst nichk zu sein und wäre nichk. — Soweit der Inhalk im Kunst-
werk nichk aufgeht, eine Diskrepanz da ist von Inhalk und Form, der Inhalt
irgendwie „übersteht", ist sogleich eine Berstörung, eine Skörung dieses We-
senklichen da; eben dessen, das in der Kunst angerührk sein will. Nur der
vollkommene Künstler greifk ganz an uns; der nichk vollkommene Künstler hak
m'chk ekwa nur eine geringere Kunstwirkung auf uns, sondern er hak eine Wir-
kung anderer 2lrk, enkweder eine inhalkliche oder eine rein ästhekifche. Diese
haben einen anderm Ork im Raume der geistigen Welt als die Kunst.

Es ift üblich, bei Kunst- und Dichtwerken von Form und Inhalk zu spre-
chen. Anch sprichk man davon wie von zwei Dingen, die an verfchiedenen
Welkenden stehen und nun zusammenkommen. Und nennk zumeist mik dem
Worke „Inhalk" ein auch sonst Nennbares, Benennbares, Erzählbares, das
sich aus dem Kunstwerk herausziehen läßk, grade insoweik man von der Ge-
stalkckheik, vom Kunstwerk als solchem absiehk. Der Inhalk des Kunstwerkes
als Kunstwerk aber ist ekwas anderes. Was dieser ist, ist fchwer zu
greifen und hinzustellen. Wie wollke man sagen, welches der Inhalk von
Werkcn ist, wie die Tempel in Paestum, der Doryphoros in Neapel (Poly-
klet) oder die Amazone im VaLikan, die dem Phidias nachgearbeitek sein soll?
Man begreifk nnd fühlk vor diesen, daß hier das ganz Kunst-Gewordene stehk,
der Jnhalk, der in seine große Form aufgehk. Das, was vor uns stehk, ist
Form und Inhalk zugleich, ist ganz Form und ganz Inhalk. Seine Form ist
sein Inhalt.

Vor der mediceifchen Venus fühlen wir, wie ekwas, das seiner Ark nach nichk
Kunft zu werdcn vermochke, die Kunstform irrikierend umflakterk, nur Inhalk
blcibk. Wie wir es ekwa auch fühlen, wenn wir das Mikkelfchisf des Kölner
Domes bekreken — hier vielleicht einen Willen und eine Rechnung dcs Mei-
sters, uns mit dem Eindruck zu überstürzen; etwas, das auch nicht Kunst wer-
den kann seiner Ark nach.

Ein Inhalk, so sagen die Leute vom Kunstwerk, und meinen damit eben
jenen erzählbaren Inhalk — und wenn das Wort „Form" fällk, so sagen

Januarheft lg--g (XXXXII, 4)

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