Umschau
Asthetische Bemerkungen bei Hein-
rich von Kleijt
s erweist sich auch bei Kleiss daß sich
manchmal das höchste Elend, die ra-
dikale, innere Ausgestoßenheit ans dem
Leben, durch eine vertiefte Einsicht in
eben dieses Leben bezahlt macht — so
wie ein Kranker von den Zusammenhän-
gen im Körper mehr weiß als der Ge-
sunde, weil sie ihm durch Störungen zum
Bewußtsein kommen. Es gibt bei Kleist
häufig jene besondere Hellsichtigkeit, die
nur darauS erklärt werden kann, daß in
ihm selbst das Leben tief gestört und er
beim Schauspiel des Daseins bloß Zaun-
gast, nicht Mitspielender war. Und dies
wird insbesondere dann klar, wenn er sich
gerade zum Anwalt des unbewußten
Lebens aufwirft.
Jch will hier nicht ausführlich auf seinen
berühmten Aufsatz „Über das Ma-
rionettentheater" cingehen, da er
zu Kleists bekanntesten Prosastücken zählt;
ein Genieblitz der Beobachtung, ein Mei-
sterstück der Erklärung! Und durchaus
pointiert in der Richtung des unbewuß-
ten Lebens und der gewaltigen Bedeu-
tung, die ihm für die Unfchuld und Echt-
heit aller menschlichen Äußerung zu-
kommt. Marionetten sind ihm deshalb
eine so wertvolle Erscheinung, weil sie sich
nicht „zieren" können. „Denn Ziererei er-
scheint, wenn sich die Secle in irgendeinem
andern Punkte bcfindet als in dem
Schwerpunkt der Bewegung." Und dann
setzt er auseinander, welche „Unordnun-
gen in der natürlichen Grazie des Men-
schen das Bewußtsein anrichtet", nnd en-
det, fast in raunendem und seherischem
Ton, mit dem Hinweis auf die z w e i t e
Unschuld, di'e wir uns, nach dem ersten
Sündenfall, durch ei'n zweitmaliges
„Essen vom Baum der Erkenntnis" er-
ringen müßten. Er will damit sagen, daß
der Geist zuerst als das Lebenstörende in
uns auftritt, und daß ein zweiter, höherer
Erkenntm'sakt nötig ist, um den aus der
Lebensordnung herauSgetretenenGeistwie-
der in diese einzufügen. Ein tiefes, wahres
Wort, das an das innerste Geheimnis
jeder echten Menschwerdung rührt.
Ahnlich ist der Gedankengang in dem kur-
zen Aufsatz „Brief eines Malers an sei-
nen Sohn". Der Sohn hat an den Va-
ter geschrieben, daß er eine Madonna
malen wolle und daß er die Heiligkeit
dieser Aufgabe so tief empfinde, daß er
jedesmal, ehe er zum Pinsel greife, das
Abendmahl nehmen möchte. Verstiegen-
heit! Falsche Begeisterung! warnt ihn
öer Vater. „Die Welt ist eine wunder-
liche Einrichtung; und die göttlichsten
Wirkungen gehen aus den niedersten und
unscheinbarsten Ursachen hervor." Wenn
nur die „gemeine, aber übrigens recht-
fchasfene Lust an dem Spiel, deine Ein-
bildungen auf die Leinwand zu bringen",
vorhanden ist, dann ist alles gegeben, was
nötig ist. Unbewußt muß der Einsatz des
Menschen erfolgen, auch wenn er etwas
HoheS und Geiftiges zustandebringen will
— nur dann gehen seine tiefsten Kräfte
voll ins Werk.
Sehr tief und triftig sind auch Kleists
Bemerkungen in dem „Brief eines Dich-
ters an cinen andern". Er geht davon
aus, daß jemand ihm, dem Dichter, Koin-
plimente gemacht hat über sein zweckmä-
ßiges Metruni, über Rhythmus, Wohl-
klang, Reinheit und Richtigkeit des Aus-
druckö in seinen Dersen. Und er hält
dem Lobredner entgegen: „Erlaube mir,
dir zu sagen, daß dein Gemüt hier auf
Vorzügen verweilt, die ihren größesten
Wert dadurch bewiesen haben würden,
daß du sie gar nicht bemerkt hättest." Sie
sollten gar nicht ins Bewußtsein fallen.
Die Kunst geht geradezn darauf aus, sie
verschwinden zu machen. „Denn
das ist die Eigenschaft allcr echten Form,
daß der Geist augenblicklich unö iimnittel-
bar daraus hervortritt, während die man-
gelhafte ihn wie ein fchlechter Spiege!
gebunden hält und uns an nichts erinnerl,
als an sich selb st." Das Lob, das der
Freund spendet, wird dem tiefen Knust-
verstand, der hier spricht, also zum Ge-
genteil: es erregt den Verdacht, ob nicht
er, der Dichter, „ganz falsche rhythmi-
sche und prosodifche Neize" in seinem
Werk verwendet habe; sonst hätten sie
dem Leser nicht inöBewußtsein fal-
len dürfen.
Mit starken Worten weiß schließlich Kleift
in dem „Brief eines jungen Dichters an
einen jungen Maler" das wesentliche Ar-
gument gegen das (zu seiner Zeit übliche)
190
Asthetische Bemerkungen bei Hein-
rich von Kleijt
s erweist sich auch bei Kleiss daß sich
manchmal das höchste Elend, die ra-
dikale, innere Ausgestoßenheit ans dem
Leben, durch eine vertiefte Einsicht in
eben dieses Leben bezahlt macht — so
wie ein Kranker von den Zusammenhän-
gen im Körper mehr weiß als der Ge-
sunde, weil sie ihm durch Störungen zum
Bewußtsein kommen. Es gibt bei Kleist
häufig jene besondere Hellsichtigkeit, die
nur darauS erklärt werden kann, daß in
ihm selbst das Leben tief gestört und er
beim Schauspiel des Daseins bloß Zaun-
gast, nicht Mitspielender war. Und dies
wird insbesondere dann klar, wenn er sich
gerade zum Anwalt des unbewußten
Lebens aufwirft.
Jch will hier nicht ausführlich auf seinen
berühmten Aufsatz „Über das Ma-
rionettentheater" cingehen, da er
zu Kleists bekanntesten Prosastücken zählt;
ein Genieblitz der Beobachtung, ein Mei-
sterstück der Erklärung! Und durchaus
pointiert in der Richtung des unbewuß-
ten Lebens und der gewaltigen Bedeu-
tung, die ihm für die Unfchuld und Echt-
heit aller menschlichen Äußerung zu-
kommt. Marionetten sind ihm deshalb
eine so wertvolle Erscheinung, weil sie sich
nicht „zieren" können. „Denn Ziererei er-
scheint, wenn sich die Secle in irgendeinem
andern Punkte bcfindet als in dem
Schwerpunkt der Bewegung." Und dann
setzt er auseinander, welche „Unordnun-
gen in der natürlichen Grazie des Men-
schen das Bewußtsein anrichtet", nnd en-
det, fast in raunendem und seherischem
Ton, mit dem Hinweis auf die z w e i t e
Unschuld, di'e wir uns, nach dem ersten
Sündenfall, durch ei'n zweitmaliges
„Essen vom Baum der Erkenntnis" er-
ringen müßten. Er will damit sagen, daß
der Geist zuerst als das Lebenstörende in
uns auftritt, und daß ein zweiter, höherer
Erkenntm'sakt nötig ist, um den aus der
Lebensordnung herauSgetretenenGeistwie-
der in diese einzufügen. Ein tiefes, wahres
Wort, das an das innerste Geheimnis
jeder echten Menschwerdung rührt.
Ahnlich ist der Gedankengang in dem kur-
zen Aufsatz „Brief eines Malers an sei-
nen Sohn". Der Sohn hat an den Va-
ter geschrieben, daß er eine Madonna
malen wolle und daß er die Heiligkeit
dieser Aufgabe so tief empfinde, daß er
jedesmal, ehe er zum Pinsel greife, das
Abendmahl nehmen möchte. Verstiegen-
heit! Falsche Begeisterung! warnt ihn
öer Vater. „Die Welt ist eine wunder-
liche Einrichtung; und die göttlichsten
Wirkungen gehen aus den niedersten und
unscheinbarsten Ursachen hervor." Wenn
nur die „gemeine, aber übrigens recht-
fchasfene Lust an dem Spiel, deine Ein-
bildungen auf die Leinwand zu bringen",
vorhanden ist, dann ist alles gegeben, was
nötig ist. Unbewußt muß der Einsatz des
Menschen erfolgen, auch wenn er etwas
HoheS und Geiftiges zustandebringen will
— nur dann gehen seine tiefsten Kräfte
voll ins Werk.
Sehr tief und triftig sind auch Kleists
Bemerkungen in dem „Brief eines Dich-
ters an cinen andern". Er geht davon
aus, daß jemand ihm, dem Dichter, Koin-
plimente gemacht hat über sein zweckmä-
ßiges Metruni, über Rhythmus, Wohl-
klang, Reinheit und Richtigkeit des Aus-
druckö in seinen Dersen. Und er hält
dem Lobredner entgegen: „Erlaube mir,
dir zu sagen, daß dein Gemüt hier auf
Vorzügen verweilt, die ihren größesten
Wert dadurch bewiesen haben würden,
daß du sie gar nicht bemerkt hättest." Sie
sollten gar nicht ins Bewußtsein fallen.
Die Kunst geht geradezn darauf aus, sie
verschwinden zu machen. „Denn
das ist die Eigenschaft allcr echten Form,
daß der Geist augenblicklich unö iimnittel-
bar daraus hervortritt, während die man-
gelhafte ihn wie ein fchlechter Spiege!
gebunden hält und uns an nichts erinnerl,
als an sich selb st." Das Lob, das der
Freund spendet, wird dem tiefen Knust-
verstand, der hier spricht, also zum Ge-
genteil: es erregt den Verdacht, ob nicht
er, der Dichter, „ganz falsche rhythmi-
sche und prosodifche Neize" in seinem
Werk verwendet habe; sonst hätten sie
dem Leser nicht inöBewußtsein fal-
len dürfen.
Mit starken Worten weiß schließlich Kleift
in dem „Brief eines jungen Dichters an
einen jungen Maler" das wesentliche Ar-
gument gegen das (zu seiner Zeit übliche)
190