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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,1.1928-1929

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1928)
DOI Artikel:
Thiel, Rudolf: Wege und Ziele moderner Biographie
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https://doi.org/10.11588/diglit.8885#0112

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I. Der biographische Roman

Die Bücher Emil Ludwigs haben einen außerordentlichen Erfolg gehabt
und dürfen darum als BaromeLer für den Gefchmack des großen Publikums
geltcn. Was will man heute von einer Biographie? Daß sie gut erzählk ift,
daß sie den Tatsachen entspricht, daß sie den Menfchen menfchlich nahebringt.
Man will Fleifch und Blut, man will dicht dabei sein. Die Erfüllung solcher
Wünfche ift Ludwigs Verdienst und Programm. Wurde einft das erhabene
Borbild in höchfte Höhe gehängt und sorgfältig ehrfürchtig von allen Flecken
gereinigt, so will er fchildern, „wie große Männer keine Götter sind, wie sie
von denselben allzumenfchlichen Passionen, Hemmungen und Laftern ge-
fchüttelt werdcn, die jeden andern Sterblichen beunruhigen, und wie sie dennoch
sich zu ihren Ziclen durchkämpften" (Vorwort zu „Genie und Charakter").
Derartige Lebensgefchichten gab es fchon früher. Man nannte sie hiftorifche
Romane. Emil Ludwig will damit beileibe nichts zu tun haben. Er nennt
sich einen Porträtiften und fchreibt sich selbft ein Menetekel hin: „Wehe ihm
aber, wenn er zu phantasieren anfängt, wenn er Daten auch nur um Nmancen
verfchiebt, sich also dem Romancier annähert! ...Wer fchweift und erfindet,
versündigt sich nicht bloß an der Gestalt, er verliert obendrein auch die Partie:
denn Gott ift immer weise und überdies phantaftifcher als der Dichter und
hat dem Lebenslaufe seiner Wesen siets eine Liefere Logik mitgegeben, als sie
der feinfte Konstrukteur erdichten kann. Wer nicht mit Anbetung vor der Not-
wendigkeit aller Lebensdaten des Menfchen stehk, sollte nie wagen, einen
historifchen Menfchcn nachzubilden: er mag nur immcr in seinen Träumen
schweifen!"

TroH dieser Berufung auf höhere Inftanzen wird der Porträkift nicht umhin
können, „Gottes tiefere Logik" und die „ITotwendigkeit aller Lebensdaten"
höchftpersönlich zu — erforfchen, ehe er mit Anbetung davor ftehen kann. Und
wenn er nicht unfehlbar ift, wird er sich nicht wissenfchaftlicher Methode
dazu bedicnen müssen?

Nun will zwar Ludwig als Schuldner des wissenfchaftlichen Biographen
gelten, aber keinesfalls auf dessen Stufe ftehen bleiben. „Wenn der Philo-
loge mit seinem Studium beginnt, aus dem sich ihm allmählich das Bild des
Menfchcn enthüllt, so hat der Porträtift mit der Vision der Geftalt begonnen
und sucht aus den Akten im Grunde nur Besiätigungen seines inneren Vor-
gefühles." Und dieses Vorgefühl wird höchft einfach verwirklicht als
Erzählung! Man verfchiebt kcine Daten, man wählt nur aus...

Kein Wunder, wenn der Wissenfchaftler dieser Menfchenmalerei einiges
Mißtrauen enkgegcnbringt. Aber auch der unbefangene Lcser, der den flokten
Stil und die prachtvolle Dramatik von Ludwigs Büchern liebt, wird
sich sagen, daß andersartige „Msionen" schließlich zum entgegcngeseHten Por-
Lrät berechkigen dürften, unbefchadet aller Notwendigkeit dcr Charakkere, „in
denen Gottes Finger wirkt". Den Experimentalbeweis hat W e r n e r H e g e -
mann geliefert mik seinen Büchern über Fridericus und OTapoleon. Hier
ist das Studium des Menfchlichen (grob gesagk, die Kammerdiener-Perspek-
Live) zur alleinseligmachenden Methode erhoben, hier wird an Schriften,
Llussprüchen, Anekdoten, zeitgcnössifchen Urteilm und sogar zuweilen an
historifchen Daten gezeigt, „wie große Männer keine Götter sind", ja wie sie

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