Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,1.1928-1929

DOI Heft:
Heft 3 (Dezemberheft 1928)
DOI Artikel:
Umschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8885#0249

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
doch mehr, eine Reklamenacht und doch
mehr. Eines steht fest: Diese Toten
waren noch immer schön, man sah, roie
öi'eser Geist gebaut und gestaltet hatte,
öaß diese Fossilien, diese toten Baukör-
per noch immer mehr Blut haben als
unsere neuen Baukörper. Daß mancher
Neubau, manches Betonschifs durch selne
Beleuchtung nur gewann, ist nicht ver-
wunderlich. Das Licht gliedert und be-
lebt die tote Fläche, umbrandet das
Kubisch-Lineare, löst die stille Härte mit
weicherem Glanz und läßt die Reklame-
flächen der Ladenfenster lauter strahlen.
Das neue Neklamelicht, die neue Re-
klamearchitektur, die in Lichtständern und
Lichttürmen ihre farbige Schlagkraft er-
wies, versöhnte mit so manchem Messe-
artigen, Kinetischen, Automatischen. Hier
lag das Neue und Gute, in der farbigen
Lichtreklame statischer Art!

Später werden alle Plätze und Straßen,
alle Fenster und Läden so hell sein wie
diesmal die Bevorzugten für kurze Zeit.
Seit Jährhunderten nimmt die äußere
Erhellung zu und die innere Aufklärung
ab. Wenn man die Menschen wendcn
könnte, wäre Berlin dunkel. Je heller
es wird, um so tiefer werden seine
Jnnenschatten. Die bekannte Laterne des
Diogeueö brennt hier nicht. Aber hie und
da sieht man einen berlinisch illuminierten
Totentanz. „Berlin bei Licht" war eine
moderne Walpurgisnacht. Eberlein

Bemerkung

ie reine Dynamik des Verkehrs der
Menschen untereinander ist in der
menschlichen Gesellschast fast ganz über-
öeckt durch eine andere Äynamik von
Zwecken und Jnteressen, die dem Ein-
zelnen gar nicht angehören, sondern durch
ihn hindurchwirken, oder auch durch ge-
wohnheitsmäßige Bindungen der Fa-
milie, des Standes, des Berufeö, des
Amtes; aber sie Lritt überall da zutage,
wo Menschen zusammenkommen, die, nur
durch den Zufall zusammengeführt, ein-
ander noch neu und unbekannt sind, die
sich noch nicht aneinander gemessen und
erprobt haben. Je mehr die Einzelnen
losgelöst sind von den berechneten Zweck-
bindungen ihrer gewohnten Umgebung,
je mehr die Würde des Titels und ihrer
Gehaltsklasse von ihnen abfällt, desto
reiner und ursprünglicher tritt die ele-
mentare Dynamik, die unberechenbar und

unfälschbar ist, in Erscheinung. Ein
Dutzend Menschen, die für kurze Zeit in
einer Pension zusammentresfen, gibt ein
Urbild der menschlichen Gesellschaft, daS
durch die Abreise oder die Ankunft eines
Mitgliedes sich völlig verfchieben kann.
Jn einer Welt, in der man nur vvr-
übergehend weilt und in der zunächst
wenigstens alleö ohne Folge ist, ist alles
nur ein Spiel, aber doch ein Spiel von
großem Ernst, da jeder mit seinem gan-
zen Sein, mit seinen nie gestillten Hosf-
nungen und Wünschen, Nesignationen,
Ängsten, Wunden, mit seiner Stärke
und seiner Schwachheit, seiner Eitelkeit
und Bescheidenheit, seiner Sicherheit und
Verwundbarkeit — alleö daS völlig un-
voreingenommen und absichtsloü einge-
setzt — daran beteiligt ist. Sympathien
führen die einen zusammen und stoßen
die andern ab, ohne daß man sich Re-
chenschaft darüber gibt und ohne daß
sie durch irgendwelche Verpflichtungen
durchkreuzt werden. Es bilden sich Grup-
pen; Einzelgänger, die den Anschluß nicht
wollen oder nicht finden, sondern sich
aus oder werden umworben. Die Füh-
rer, die Liebenswürdigen und andere
Mittelpunktsinenschen sammeln ihre
Kreise um viele. Nach geheimen Ge-
setzen, die keinem bewußt sind, bezieht
jeder den ihm auf dieseni Schachbretk
vorgesehenen Platz. Zwischen den Grup-
pen und wieder zwischen Einzelnen und
den Gruppen entstehen Spannungen, da
Sympathien und Antipathien sich durch-
kreuzen. Stolz, Geltungöbedürfnis, Res-
sentiments, Wohl- und Übelwollen, die
Verkrampftheit und Gelockertheit der
Beteiligten komplizieren das Bild. Jeder
hat sich hier neu zu bewähren; es isr
daö interessanteste Experimentierfeld des
Lebens — fragt sich uur, für was: nicht
für seine Begabung oder seine geistigen
Fähigkeiten, sondern für eine besondere
Fähigkeit des Unigangs mit Menschen,
für ein Undefinierbares, für das spe-
zifische Gewicht seiner menschlichen Sub-
stanz, vielleicht für seine Liebesfähig-
keit. Es ist nutzloS, sich dieser Dynamik
entziehen zu wollen, denn auch wer sich
fernhält und als Beobachter auf die
Seite stellt, ist trotzdem in seiner Art
in den Kräftestrom eingeschlossen, und es
ist nur ein Jrrtuni, wenn er glaubt,
unbeeinflußt zu bleiben.

Man darf diefe einfachen menschlichen
Beziehungen nicht unterschätzen. Sie sind

200
 
Annotationen