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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,1.1928-1929

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1929)
DOI Artikel:
Rupé, Hans: Gotthold Ephraim Lessing: zu seinem 200. Geburtstage
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https://doi.org/10.11588/diglit.8885#0348

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die, bei schcinbarer Regcllosigkeit des Skudiums, in möglichst lockerer und uu-
verbindlicher Lebenshaltung den Weg und die Richtung zu einer Konzentration
sucht, die nur exzentrisch uud nur durch Preisgabe des Lebensglücks, durch
Dienst am Leben, nicht um den Gcnuß, zu erreichen ist. Schon dcr junge Lessing
wciß, daß zur Selbstgewinnung im Geiste Anonymität notwendig ist, daß er
nicht schreibend wirkt, um sein Selbst zu enthüllen. Wo er befragk wird, er-
widert er ablchnend oder ausweichend, etwa: „Kann man von cincm Menschen
ohne Bedicnung, ohne Frcunde, ohne Glück viel wichtigeres sagen als seinen
Namcn?... Jch habe in der Fürstenschule zn Meißcn und hernach zu Leipzig
und Wittenberg studiert. Man setzt mich aber in Verlegenheit, wenn man
mich fragt, was... Jch befinde mich seit 1748 in Berlin und habe mich wäh-
rend dieser Zeit nur ein halb Iahr an einem andern Orke aufgehalken. Ich
suche hier keine Befördcrung und ich lebe bloß hier, wcil ich an keinem andern
großen Ortc lcben kann. Wenn ich noch mcin 2llter hinzusetze, wclches sich
auf 25 Iahre beläust, so ist mein Lebenslauf fertig. Was noch kommcn soll,
habe ich der Borsicht überlassen. Ich glaube schwerlich, daß ein Mensch gegen
das Zukünftigc gleichgültigcr sein kann als ich." Lessing seHt sich ganz ein,
ob es sür oder gegcn einen Mcnschen, sür oder gegen eine Idce sei, gibt sich
aber nie hin, läßt sich nie berauschen, noch durch seine Asfekte, die sehr stark
sind, entkräften. Er sncht das Lebcn und kennt weder den Hochmut noch die
Hilflosigkcit des Gelehrten eincm andern Stande, einer ihm fremdcn Lebens-
äußerung gegcnüber, er braucht den Berkehr mit den Menschen, die Aussprache
wie dic Gcgnerschaft, bleibt aber in seiner selbstgewähltcn und -bestimmtcn
Isolation und haßt — das einzige, was er wirklich haßt — die falsche Zu-
dringlichkeit, den Mangel an Distanz im Leben wie im Gciste.

Dieser Sinn sür Distanz, dcn er ausbildek und vertiest, gibt seinen Worten
und Werken die beispiellose Klarhcit und die ekhi'schc Haltung. Diescr Sinn
sür Distanz bcwährk sich in der Gestaltung sciner dramatischen Meisterwerke,
in den Konflikten seiner Helden mi'L ihrem Schicksal, zeigk sich gereift in der
Figur Tellheims, verklärt in dcm Wcscn Rkathans, gibt den späten Schriften,
namentlich den Freimaurcrgesprächcn und dcr Erziehung des Mcnschenge-
schlechtes, dcn unbeschreibli'chcn Charakter von Souveränität, macht seine Briefe
zu menschlichen Dokumcnten, die man glücklicherweise nicht aushorchen und
ausbeuten kann. Seine tiefsten pcrsönlichen Gefühlc bewahrt er so keusch und
zark, daß er sie höchstens in einer antithetischen Wendung ausdrückt: „Leben
Sie recht wohl und scien Sie lieber ein wenig gegen mich unwi'llig, als daß
Sie Mitleiden mit mir haben solltcn, wcnn Ihncn dieses Miklcid den ge-
ringsten Kummer machen sollte. Ich bin dennoch ganz der Ihrige" beschließt
cr einen Bricf an die einzige Frau, die er gcliebt hak.

Mcnschcn vom Schlage Lessings, die ihre gcistige Haltung jelbst bestimmen,
wirken revolutionierend, selbst wenn sie schon gedachte Gedanken durchdenken,
sich aneignen und an sie anknüpfen. Sie erst bringen die fruchtbaren, lebensfähi-
gcn Jdecn zur Gärung, sie sind es, die einem Gedanken sein Schicksal aufcr-
legcn und sich mit diescm Schicksal verbünden, selbst wenn sie an ihm unker-
gehen müssen. Lessings Schicksal hat mehr von der großcn Tragik des handeln-
den, als des künstlerisch schaffenden Genies. Er ist eher cin Feldhcrr, cin großer
Politiker im Reiche dcs Gedankens. Der einzige Wesens- und Schicksalsvcr-

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