dem Krieg seine Lithographien in PariS
drucken ließ. Das Zeichnen auf den Stein
ermöglicht dem Künftler die volle, breite
Ansdrucksfähi'gkeit, und Daumier hat ge-
rade hierin, zumal seit Mitte der sechzi-
ger Jahre, seinen Stil zur großartigsten
Entfaltuug gebracht. Jm Holzfchuitt ler-
nen wir mehr seine Eleganz kennen. Er
Neugier
fchrieb, wie ein Zeitgenosse sagte, die
Zeichnungen direkt auf den Holzftock, wie
unsereiner fchnell eine kurze Notiz nieder-
fchreibt, damit sie dem Gedächtnis nicht
entfchwindet. Faft am erftaunlichften ift
der Künstler in seinen Vignetten. Viele
waren irn Charivari und wurden später
anderweitig abgedruckt, aber zahlreiche
finden sich auch in kleinen Büchlein zur
Zeitgefchichte. Jm ganzen sind über goo
Holzfchnitte bekannt geworden. Daumier
war ja auch der vielsei'tigfte Buchilluftra-
tor seiner Zeit. — Es ift hier aufs neue
zu sagen, was wir fchon wiederholt be-
tont haben, daß die Zeichnung neben der
Malerei m'cht ein geringerwertiges Dar-
ftellungs- und Ausdruckmittel, sondern
nur anderer Art i'ft: es kann in der klein-
ften Zeichnung ganz große Kunft ftecken,
und gerade bei Daumier ift dies sehr vft
der Fall. Der Deutfche, der in der
Schwarzweißkunft des späten Mittelal-
ters eine wahrhafte Weltkunft gefchaf-
fen, sollte das niemals vergessen. Sle-
vogt, vielleicht ein noch größerer Zeich-
ner als Maler, obwohl gewiß ein Maler
von Gottes Gnaden, fchrieb im Anfchluß
an eine Würdigung des SimplizissimuS-
Zeichners Rudolf Wilke: „Jft dies klei-
nere Kunst, weil sie in einer satirifchen
Wochenfchrift als Jllufwation erfcheint?
Müssen wir auf den Schatten eines ganz
Großen zeigen, der lange und unerfchöpf-
lich die Tagesereignisse mit seinem Stift
begleitete, des .Karikaturiften^ Daumier,
eines der gewaltigften, ftolzeften Genies
der großen Kunft, um die Torheit unse-
res Einregiftrierens einzusehen!"
Daumier wurde fchon bei Lebzeiten der
„Michelangelo der Karikatur" genannt;
mit vollem Recht, weil die Größe, Macht
und Gewalt seines Stils jeuem ebenbürtig
ift — zumal in seinem Alters-Stil. Dau-
mier ift auch im Kleinften und Alltäglich-
ften bedeutungsvoll, weil er eS aus seiner
großen Menfchlichkeit siehk, erlebt und
geftaltet.
Er fchuf viele Holzfchnitte für Zeitungen
und Bücher, ganze Folgen, in denen er
die Politik, aber auch das bürgerliche Le-
ben ironlsiert, besonders in der Zeit von
i8^o—mehr als die Hälfte fällt in
die befte Zeit des französifchen Holzfchnit-
tes und gehört zu dessen klassifchen Lei-
ftungen.
Der buchftabierende Esel (16^1), als
Berkörperung einer hosfnungslosen Be-
griffsftutzigkeit, trotz aller Bemühungen
um das Begreifen. Das Hirn fchiebt sich
,'n die Höhe, die Ohren werden faft zu
Hörnern, im gleichen Maß rutfcht das
ratlose Gesicht vor dem verbohrten Auge
in die Tiefe, das leere Maul wächft bei-
nahe zusammen. Dazu das ängftlich zu-
sammengedrängte Sitzen, das krampf-
hafte Halten des Buches: wie ein vom
Schicksal zu solcher Situation ewig Ver-
dammter. — Auf deroberftenGa-
lerie eines Bo u l e v a r d t h e a t e r s
(i6z6). Ein Theater im Theater, mit
Schauspielern und Zufchauern. Glänzend,
wie in die dichtgedrängte Menge plötz-
lich Lockerung und Bewegung kommt. Ein
Kabinettftück ift der unentwegte Schufter-
junge, der auch aus Berlin ftammen
könnte. — Cholera, aus dem sehr be-
rühmten zweibändigen Werk ..IXemoüis
Nsilioale" (i6^o), das zum Großartig-
ften der französifchen Graphik gehört und
worin vor allem die Raumentwicklung
auf einer besonderen Höhe fteht. Eine
Satire auf die damalige Arztekunft und
-wissenfchaft. Die Häuser sind wie ausge-
höhlt, fchemcnhaft, erftorben, der weite
Platz und die breite Straße von unheim-
licher Ode und gähnender Leere, die uns
durch das Figurale noch mehr zum Be-
wußtsein gebracht, darin sogar noch ge-
fteigert wird. Die Vertcilung von Menfch
und Tier und Fahrzeug wirkt wie Totcn-
flecken in fahlem Leichengesicht, ihr Ge-
gencinander erzeugt den Eindruck wirrer
Ratloslgkeit und fataliftifcher Ergebung
zugleich, ihre Dunkelheit fchafft Gespen-
fter am hellichten Tag. — Oolos kar
nient «' aus dem „Zerrspiegel" (i8isi).
350
drucken ließ. Das Zeichnen auf den Stein
ermöglicht dem Künftler die volle, breite
Ansdrucksfähi'gkeit, und Daumier hat ge-
rade hierin, zumal seit Mitte der sechzi-
ger Jahre, seinen Stil zur großartigsten
Entfaltuug gebracht. Jm Holzfchuitt ler-
nen wir mehr seine Eleganz kennen. Er
Neugier
fchrieb, wie ein Zeitgenosse sagte, die
Zeichnungen direkt auf den Holzftock, wie
unsereiner fchnell eine kurze Notiz nieder-
fchreibt, damit sie dem Gedächtnis nicht
entfchwindet. Faft am erftaunlichften ift
der Künstler in seinen Vignetten. Viele
waren irn Charivari und wurden später
anderweitig abgedruckt, aber zahlreiche
finden sich auch in kleinen Büchlein zur
Zeitgefchichte. Jm ganzen sind über goo
Holzfchnitte bekannt geworden. Daumier
war ja auch der vielsei'tigfte Buchilluftra-
tor seiner Zeit. — Es ift hier aufs neue
zu sagen, was wir fchon wiederholt be-
tont haben, daß die Zeichnung neben der
Malerei m'cht ein geringerwertiges Dar-
ftellungs- und Ausdruckmittel, sondern
nur anderer Art i'ft: es kann in der klein-
ften Zeichnung ganz große Kunft ftecken,
und gerade bei Daumier ift dies sehr vft
der Fall. Der Deutfche, der in der
Schwarzweißkunft des späten Mittelal-
ters eine wahrhafte Weltkunft gefchaf-
fen, sollte das niemals vergessen. Sle-
vogt, vielleicht ein noch größerer Zeich-
ner als Maler, obwohl gewiß ein Maler
von Gottes Gnaden, fchrieb im Anfchluß
an eine Würdigung des SimplizissimuS-
Zeichners Rudolf Wilke: „Jft dies klei-
nere Kunst, weil sie in einer satirifchen
Wochenfchrift als Jllufwation erfcheint?
Müssen wir auf den Schatten eines ganz
Großen zeigen, der lange und unerfchöpf-
lich die Tagesereignisse mit seinem Stift
begleitete, des .Karikaturiften^ Daumier,
eines der gewaltigften, ftolzeften Genies
der großen Kunft, um die Torheit unse-
res Einregiftrierens einzusehen!"
Daumier wurde fchon bei Lebzeiten der
„Michelangelo der Karikatur" genannt;
mit vollem Recht, weil die Größe, Macht
und Gewalt seines Stils jeuem ebenbürtig
ift — zumal in seinem Alters-Stil. Dau-
mier ift auch im Kleinften und Alltäglich-
ften bedeutungsvoll, weil er eS aus seiner
großen Menfchlichkeit siehk, erlebt und
geftaltet.
Er fchuf viele Holzfchnitte für Zeitungen
und Bücher, ganze Folgen, in denen er
die Politik, aber auch das bürgerliche Le-
ben ironlsiert, besonders in der Zeit von
i8^o—mehr als die Hälfte fällt in
die befte Zeit des französifchen Holzfchnit-
tes und gehört zu dessen klassifchen Lei-
ftungen.
Der buchftabierende Esel (16^1), als
Berkörperung einer hosfnungslosen Be-
griffsftutzigkeit, trotz aller Bemühungen
um das Begreifen. Das Hirn fchiebt sich
,'n die Höhe, die Ohren werden faft zu
Hörnern, im gleichen Maß rutfcht das
ratlose Gesicht vor dem verbohrten Auge
in die Tiefe, das leere Maul wächft bei-
nahe zusammen. Dazu das ängftlich zu-
sammengedrängte Sitzen, das krampf-
hafte Halten des Buches: wie ein vom
Schicksal zu solcher Situation ewig Ver-
dammter. — Auf deroberftenGa-
lerie eines Bo u l e v a r d t h e a t e r s
(i6z6). Ein Theater im Theater, mit
Schauspielern und Zufchauern. Glänzend,
wie in die dichtgedrängte Menge plötz-
lich Lockerung und Bewegung kommt. Ein
Kabinettftück ift der unentwegte Schufter-
junge, der auch aus Berlin ftammen
könnte. — Cholera, aus dem sehr be-
rühmten zweibändigen Werk ..IXemoüis
Nsilioale" (i6^o), das zum Großartig-
ften der französifchen Graphik gehört und
worin vor allem die Raumentwicklung
auf einer besonderen Höhe fteht. Eine
Satire auf die damalige Arztekunft und
-wissenfchaft. Die Häuser sind wie ausge-
höhlt, fchemcnhaft, erftorben, der weite
Platz und die breite Straße von unheim-
licher Ode und gähnender Leere, die uns
durch das Figurale noch mehr zum Be-
wußtsein gebracht, darin sogar noch ge-
fteigert wird. Die Vertcilung von Menfch
und Tier und Fahrzeug wirkt wie Totcn-
flecken in fahlem Leichengesicht, ihr Ge-
gencinander erzeugt den Eindruck wirrer
Ratloslgkeit und fataliftifcher Ergebung
zugleich, ihre Dunkelheit fchafft Gespen-
fter am hellichten Tag. — Oolos kar
nient «' aus dem „Zerrspiegel" (i8isi).
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