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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,1.1928-1929

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1929)
DOI Artikel:
Michel, Ernst: Volksbildung als "Bildung zum Volk"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8885#0427

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drrekten Objektvermittlung sich austobte, aber auch nach wenigen Icchren zu-
sammcnbrach.

Nun stand dieser bürgerlichen VolksbildungsarbeiL von Anbeginn der viertc
Sland und seine Klassenformierung gegenüber. 2ln der sozialen N!ot der 2lr-
beiterschaft und der Struktur der Arbeikerbewegung wurde der Krisenzustand
der neuzeitlichen Bildung den Einsichtigen fchon früh deutlich: hier kat sich
eben eine tiefere und breitere Kluft auf als jene, die bisher zwifchen Gebildeten
nnd Ungebildeten innerhalb des Volkes bcstand. Und auch in der 2lrbeiter-
fchaft selbst erhob sich und festigte sich das Bewußtsein, zu einer Lebensform
aufgerufen zu sein, zu der die bürgerliche Kultur keine entscheidende Hilfe zu
bieten vermöge. Da aber das Proletariat in dieser Epoche seines Kampfes die
Kraft zur selbständigen Neugestaltung nicht einmal in 2lnsätzen aufbringen
konnte, verfiel es auf die Dauer geistig, wenn auch nicht seelisch immer
stärker der bürgerlichen Wissensbildung, indem cs aus der Nvt eine Tugend
zu machen und Kunst und Wissenfchaft als Mittel im politifchen Kampfe und
im Klassenkampfe zu benuhen suchte. „Wissen ist Macht" wurde seine Parole,
der Glaube an den „allwissenden Menfchen" ein Hauptkennzeichen der deut-
fchen sozialistifchcn 2lrbciterfchaft. In der den Bedürfnissen des Arbeitcrkamp-
fes angepaßten, vorwiegend naturwissenfchaftlich gcfärbtcn Wissensübermitk-
lung bestand die spezififche Arbeiterbildung, in diesem Stadium fteht sie großen-
Leils noch heute. Dieser Borgang widerspricht aber dem echten Lebens-
gefühl des 2lrbeiters, das von Änbeginn auf eine neue bindcnde soziale
Lebensordnung und auf eine dieser Lebensordnung entsprechende bindende Ge-
dankenwell hindrängte nnd das auch da, loo es dem bürgerlichen Wissen ver-
fiel, dcn hilfreichen Geist suchkc, der der sozialen Lebensnok zu begegnen vermag.
Solange nun die2lrbciterfchaft in dic radikale Opposition gedrängt war, toaren
nicht nur ihr sozialistifchcs Ethos und ihr Zukunftsglaube stark genug, die
nachteiligen Folgen dieses Intellcktualisierungsvorgangs auszugleichen, sondern
diese intellektuelle Formung (bcsonders durch die Gesellfchaftskritik des wis-
senfchaftlichen Sozialismus) verstärkte auch ihre Widerstandskraft. Mit dem
Einkritk in dic politifche Wirklichkeit nach dem Weltkrieg ist abcr der 2lrbeiter-
fchaft ihre Vcrankcrung in jenem Zukunftsglauben vcrloren gegangen, und jetzt,
vor den 2lufgabcn der aufbauenden Tagesarbcit, stellten sich die Folgen jenes
Intellektualisierungsvorgangs als fchwerer 92vtstand hcraus. Damit mündeke
aber das 2lrbciterbildungsproblem als Teilfrage in die allgemeine Krise der
Volksbildung ein, die der Zusammenbruch von igi8 ans Licht brachte.

Mun hakte sich bereiks vor dem Kriege in cinzelnen Kreisen die Forderung nach
einer gestaltenden Volksbildung erhoben: der Ruf, daß alle Bolksbildung
„Bildung zum Volk" sein müsse, dje Erkenntnis, daß der Glaube an cinen
einheitlichen objcktivcn Kulturbcsitz, dcr volksbildnerifch allen Deukfchen vcr-
miLLelt wcrden könne, ein 2lnachronismus sei. Diese Fordernng nach ciner ge-
staltcnden Bolksbildung wurde igi8 als Folgc der deutfchen und europäifchen
Katastrophe zur Bewegung.* Das Erlebnis der Revolution als des Zu-
sammenbruchs untergangsreifer, znleht nur künstlich erhaltcner Ordnungen
wurde nun als notwendige Voraussehung für alle volksbildnerifche 2lrbeit

' Ocr beScutendstc Tcäger dieser gcstaltcndcn Volksbildnngüarbeit ist heulc dcr „Hohcnrodter
Dun d". 2hin angcschlossen ift dic „Ocutschc Schule für Dolksforschung und Erwachscncnbildung".

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