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Kunstwart und Kulturwart — 27,3.1914

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Heft 13 (1. Aprilheft 1914)
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Schumann, Wolfgang: Gestern, heute und morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14289#0022

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hundert Lebende über Zeit und Naum hinschweifen, so werden mindestens
295 davon sich jenseits sehr bestimmter Grenzen nicht mehr zurechtfinden,
und ihre Schöpferkraft reicht dann nicht aus, sich ein eignes Land, eine
eigne Zeit zu dichten: sie bringen Dünnes, Schwaches, gerade auch ästhetisch
Minderes hervor, je weiter sie sich von ihrem (Lrfahrungfelde entfernen.
Die letzte schulmäßig zusammenfaßbare „historische" Dichtergruppe, deren
Führer Conrad, tzolz, tzauptmann waren, suchte nicht ohne tieferen Grund
ihr tzeil in der leidenschaftlichen Selbsterfahrung: „unsre Zeit ist nur
modern!" Und die Männer des modernen München und Berlin, der
sozialen Studien und der Elendpoesie siegten über eine dünnere, an Er-
fahrung ärmere, aber „ästhetischere" Dichtung, über die Leute um Ebers
und Baumbach und selbst über tzeyse und seine Genossen.

And jetzt? Nach drei wandlungreichen Iahrzehnten haben wir von
der Energie des Leben- und Erfahrenwollens jener Männer, denen sich
auch Polenz anschloß, — kaum eine Ahnung mehr. Dabei denke ich nicht
etwa allein an jene großen Gruppen, die grundsätzlich und von vornherein
das Dichten der äußeren Erfahrung ablehnen: George, tzofmannsthal und
die „Neuromantiker", Paul Ernst und die „Neuklassiker". Auch die eigent-
lichen Prosaiker kommen immer weiter vom tzeute ab. Der historische
Roman — die letzten vierundzwanzig Kunstwarthefte zeugen übrigens auch
davon — nimmt gewaltig zu. Dichter wie Emil Strauß, Friedrich tzuch,
Schönherr und mancher andre, der daran früher nicht dachte, gingen zum
geschichtlichen Dichtwerk über. Merkwürdiger aber ist noch, wie viele dem
heutigen Leben fremd bleiben ihrer Sprache, ihrem Denken und Trachten,
ihrer Lebensauffassung und -wiedergabe nach. Wir haben viele begabte
Schriftsteller, welche den führenden Köpfen, den wichtigsten Ergebnissen
der Lntwicklung unserer Zeit um ein Iahrhundert „nach" sind. Das sind
vor allem die freundlichen Lober und freundwilligen Dichter der Klein-
stadt, der Dorf-„Romantik", der scherzreichen kleinen Alltäglichkeit, hinter
deren „Menschlichkeit" ihre poetischen Auguren so gerne eine Liefere Be-
deutung, etwas allgemeiner und mehr überzeitlich Wesenhaftes sich vor-
spiegeln möchten, auch wo sie nur das ewig Gestrige ist. Ich nenne tzer-
mann tzesse, Ernst Zahn, Otto Stössl, Arminius, Otto Ernst, Ottomar
Enking. Nicht alle diese gehören mit all ihren Werken hierher, aber
jeder doch mit einem oder einigen. All das mag gewiß ein paar Stunden
der Aufmerksamkeit und Teilnahme erfordern dürfen, aber den letzten Gehalt
einer Persönlichkeit von hohem Rang und damit eine Kunst von Be-
deutung kann es nicht erfüllen. Ieder Belesene weiß, daß wir heute eine
Dichtung des Gestern haben, welche weniger der Dichtung überzeitlichen
Ranges als der des tzeute den Boden bedenklich streitig macht.

Ein neuestes Beispiel dafür ist E. tz. Kromers Roman „Arnold
Lohrs Zigeunerfahrt" (Rütten L Loening, Frankfurt a. M., M. ^,50). Sehr
treffend sagt die „Einführung" von diesem sympathischen Büchlein, es er-
zähle „die absonderlichen Lrlebnisse eines jungen Malers, seine Er-
fahrungen mit Kunsthändlern, Mäzenen, Berufsgenossen und allerlei an-
deren kuriosen Leuten, seine verliebten Abenteuer und Enttäuschungen^.
Wirklich, diese Worte geben die Begebenheiten dieser Ausreißerjugend
treffend. Nur geben sie nicht das Vorzeichen, unter dem sie stehen: ein
rückwärts weisender Pfeil. Schon rein literarisch: die gewichtigen Poeten-
gestalten des Grünen tzeinrichs und Eichendorffs haben Außerlichkeiten
ihres Wesens reichlich beigesteuert, jener etwas von seiner Sprache, dieser

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