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Kunstwart und Kulturwart — 27,3.1914

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1914)
DOI Artikel:
Cauer, Paul: Die Antike als Jungbrunnen
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.14289#0271

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werden wir nicht los; sie drängen sich wieder Hervor, als bezeichneten sie
etwas an und für sich Bestehendes. So sind sie der Verständigung über
das, was wirklich in der Seele vorgehen mag, oft hinderlich und führen
irre, während sie doch eben hierzu hatten dienen sollen: Beobachtungen
mitzuteilen, Erklärungsversuche anzuregen — damals, als die Menschen
zuerst anfingen sich selbst zu beobachten. Aristoteles, von dem sich unsre
Ausdrucksweise herschreibt, glaubte schon eine Definition der Seele geben
zu können; sein großer Lehrer hatte darauf noch verzichtet und nur in
Gleichnissen angedeutet, was ihm vorschwebte.

Einmal denkt sich Platon ein wunderbares Wesen, das im Innern
jedes Menschen hause, aus drei Geschöpfen zusammengewachsen: das eine
ein Mensch, nur viel kleiner als der wirkliche, das zweite ein Löwe, das
dritte ein schlangenartiges Antier mit vielen Köpfen wilder und auch
zahmer Tiere. Ie nach dem nun, was einer tut, wovon er lebt, wächst
inwendig das eine oder andre der drei Geschöpfe. Der Mensch im Men«
schen soll aber die tzerrschaft gewinnen, soll mit tzilfe des Löwen, des
edlen Mutes, das Schlangengezücht, die vielgestaltigen Begierden, in seine
Gewalt bringen und nur die zum Guten führenden Triebe sich betätigen
lassen: das ist die Aufgabe der Selbsterziehung. Ein andres Mal wird
die Seele unter dem Bilde eines ungleichen Doppelgespannes beschrie«
ben: das eine Pferd, der Träger sinnlicher Begierden, trachtet abwärts
zur Erde, während das andre, ein edles Tier, mit unwiderstehlichem
Verlangen zum Lichte empordrängt; die auseinanderstrebenden soll der
Lenker, die Vernunft, beherrschen und auf sicherer Bahn führen. — Beide
Vergleiche decken sich nicht, stimmen vollends nicht genau zu der später
gebräuchlich gewordenen Dreiteilung; aber sie bilden deren Vorstufe. Sie
versetzen uns in die geistige Werkstätte eines der großen Lehrer, der durch
Lebenserfahrung und Selbsterforschung etwas von der Natur des Menschen
erkannt hat und sich bemüht, es seinen Schülern mitzuteilen. Wenn
wir ihn lesen, werden auch wir seine Schüler; wir sind dabei, wie die
Ahnung einer Wahrheit auftaucht, wir teilen die Mühe des Suchens, die
Freude des Findens. So gewinnen als beweglicher Ausdruck einer
werdenden Erkenntnis dieselben Worte frisches Leben, die, als überlieferte
Formel, in ihrer Geschlossenheit das Denken gehemmt hatten. Wenn wir
einen Gedanken da fassen können, wo er gerade daran ist in eine Form
gebracht zu werden, dann haben wir rhn wirklich. And dies ist nun, im
großen wie im einzelnen, eben der Dienst, den uns das Altertum leisten
kann.

Anter Rodins Werken im Musse du Luxembourg ist die Statue eines
Iünglings, von zarten doch kräftigen Formen. Er steht aufrecht, die
eine tzand auf das tzaupt gelegt, den andern Arm halb erhoben, die Finger
gekrampft; das Antlitz ist leicht emporgerichtet, die Lider wollen sich
öffnen: so arbeitet er sich aus dem Schlummer hervor. ^ „I/ä§6 ä'airain"
hat es der Künstler genannt: das Erwachen der Menschheit aus traum«
haftem Zustande zum Bewußtsein ihrer selbst. Weiter gefaßt, ist es ein
Bild des geistigen Ringens, in dem sich — vor unsern Augen — das
Griechentum entwickelt. Das Epos ragt mit seinen Erinnerungen noch
 
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