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Kunstwart und Kulturwart — 27,3.1914

DOI issue:
Heft 18 (2. Juniheft 1914)
DOI article:
Keyserling, Hermann: Indische Musik
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.14289#0450

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der Töne folgt, in Wahrheit sich selber zu. Man fühlt, wie der Abend
zur Nacht, und die Nacht zum Tage wird, wie auf den taufrischen Morgen
der lastende Mittag folgt, und anstatt stereotype Bilder an sich vorüber--
ziehen zu sehen, die einem die Erfahrung so leicht verleiden, wird man
sich im Spiegel der Wne der immer neuen Nuancen bewußt, mit denen
das Leben auf die Reize der Welt reagiert. Wie soll einem die Zeit
da lang werden? Wie soll einer es müde werden, zuzuhören? Da ich
blind war, überraschte mich die Entdeckung, daß der Augenlose keine
Langeweile kennt. Die Zeit, die wir sonst am Verhalten der Gegenstände
messen, die sich selten so schnell verändern und bewegen, als wir's wünschten,
wird jetzt am Wechsel der Vorstellungen abgeschätzt. Da nun die Seele
unaufhaltsam produziert, rastlos Bilder auf Bilder häuft, kann kein Be-
wußtsein der Einförmigkeit aufkommen. Diesen Trost, den die Natur dem
Erblindeten schenkt, hat die indische Musik zum Gemeingut aller gemacht,
welche Ohren haben zu hören.

Es gibt Variationen zu jedem Nag; diese heißen Näginis, weibliche
Rägs, und solcher sind viele jedem männlichen zugewiesen. Deren Ver-
Hältnis zueinander prägt sich in der Musik Höchst merkwürdig aus. Wohl
handelt es sich zum Teil um musikalische Verwandtschaft, aber das Eigent-
liche des Verhältnisses der Rägs zu den Räginis erweist sich in der
spezifischen Wirkung, in den besonderen Zuständen, welche sie wecken.
Frauen wirken nämlich anders als Männer. Die indische Musik liegt,
was ihr Eigenstes betrifft, in einer anderen Dimension als die unsrige.
Anser Objektives existiert für sie kaum. Anschließende Töne sind nicht
notwendig harmonisch verknüpft, Taktabteile fehlen, Tonart und Rhyth-
mus wechseln immerfort; ein indisches Musikstück wäre, seinem wahren
Charakter nach, in unserer Schrift nicht zu objektivieren. Das Objektive
der indischen Musik, das einzig Bestimmende, ist das, was in Europa
subjektivem Ermessen überlafsen bleibt: der Ausdruck, der Vortrag, der
Anschlag. Sie ist reine Arsprünglichkeit, reine Subjektivität, ganz reine
äures r66ll6, wie Bergson sagen würde, unbeeinträchtigt durch äußerliche
Bindungen. Nur als Rhythmus ist sie allenfalls objektiv faßbar, wie
denn der Rhythmus den Indifferenzpunkt gleichsam bezeichnet zwischen
Gegen- und Iuständlichkeit. So ist diese Musik einerseits jedem ver-
ständlich, andrerseits nur dem seelisch Höchstgebildeten. Iedem insofern,
als jeder lebendig ist, und sie unmittelbares Leben verkörpert; nur dem
tzöchstgebildeten, als ihren geistigen Sinn nur der Pogi zu fassen vermag,
der seine Seele kennt. Der Musikalische als solcher nimmt gegenüber dieser
Kunst kaum eine Vorzugsstellung ein. Wohl aber tut es der Metaphysiker.
Der Metaphysiker ist ja der Mensch, der die Arsprünglichkeit des Lebens
als solche im Geiste spiegelt, und eben das tut die indische Musik. Indem
er ihr lauscht, vernimmt er sein eigenstes Wissen, Herrlich wiedergeboren
in der Welt der Sonorität. Sie ist in der Tat nur ein anderer farbigerer
Ausdruck der indischen Weisheit. Wer sie ganz verstehen will, muß sein
Selbst realisiert haben, muß wissen, daß der Einzelne nur ein flüchtiger
Ton ist in der Weltensymphonie, daß alles zusammengehört, nichts los-
gelöst werden kann; daß nichts Gegenständliches wesentlich mehr ist als
ein Zustand, und kein Zustand mehr als ein Augenblicksbild des dunklen.
stetig dahinfließenden Lebens. Er muß wissen, daß das Sein jenseits
aller Gestaltung west, die nur dessen Ausdruck und Abglanz ist, und
daß die Erlösung darin besteht, sein Bewußtsein in diesem Sein zu ver-

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