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Kurpfälzer Jahrbuch: ein Volksbuch über heimatliche Geschichtsforschung, das künstlerische, geistige und wirtschaftliche Leben des Gebietes der einstigen Kurpfalz — 6.1930

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Drygalski, Irma von: Das Tausendjährige Reich: Gedanken einer alten Pfälzerin
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https://doi.org/10.11588/diglit.41983#0114

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Der Roman über den Pfälzer Propheten Johann Adam Müller („Der
Bauernprophet", bei Paul Braus, 1928) brachte mir nicht nur eine stille,
reiche Zeit des Schauens und Forschens im Geburtsort des Propheten,
Meckesheim. Ich ging auch sonst, — in Maisbach, in Nußloch und in anderen
Orten den noch sehr stark hinterlassenen Spuren meines Helden nach. Kam
ich erst an einer Stelle recht ins Gespräch, — konnte Bilder des Propheten
vorzeigen, aus die wenigen über ihn erschienenen Schristchen Hinweisen, so
ward mir als Gegengabe jemand genannt, der noch besser über den Propheten
Bescheid wußte oder gar mit ihm verwandt war. Nicht immer führten die
neuen Nachforschungen zu einem positiven Ergebnis für mein Buch. Für
mich selbst aber sind jene Monate, in denen ich den Bauern des Odenwaldes
und Kraichgaues gerade mit seinen religiösen Ansichten und Hoffnungen so
recht kennenlernen durfte, eine Zeit tiefster seelischer Bereicherung geworden.
And wenn ich im folgenden das Gespräch mit einer alten, von aller Welt fast
abgeschiedenen Bäuerin wiedergebe, so geschieht das ohne jeden literarischen
Ehrgeiz, ohne jedes Deutenwollen und Verklausulieren, — genau so, wie ich
die Worte hörte, und meinen an Ort und Stelle gemachten Notizen folgend,
am nächsten Tage niederschrieb. Noch am Abend meiner Rückkehr hatte ich
damals ein Gespräch mit einem Privatdozenten der Theologie, der mich um
die genaue Aufzeichnung bat, weil er sie im theologischen Seminar mit seinen
Hörern durchnehmen wollte. Er erfaßte sie als das, was sie auch mir war, —
ein schlichter, ungeschminkter Beitrag zur religiösen Volkspsychologie.
Die stille und verarbeitete Frau, an die ich gewiesen wurde, war fast
70 Iahre alt. Nach einigen Amständen rückte sie sehr offen, ja mit heiligem
Ernste und tiefer Begeisterung mit ihren Befürchtungen und Hoffnungen
heraus. Erstaunlich und herzerfrischend war es nun, zu hören, wie sich solch
einem bodenständigen Menschen das wesensfremde, orientalische Gut der
Bibel umgeformt hat in Allerpersönlichstes, Bodenentwachsenes und Heimat-
bezügliches. Auch auf den heutigen schlichten Menschen übt die geheimnisvolle
Apokalypse noch den tiefsten Einfluß aus, und er bezieht nun ihre dunklen
Prophezeiungen mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit auf sich, seine Nächsten
und seinen Wohnort. Natürlich stützte sich die Frau dabei stark auf die Aus-
sagen eben jenes Bauernpropheten. And es war nun bemerkenswert, wie sie
seine, über hundert Iahre alte Prophezeiungen, die auch durch die Apo-
kalypse genährt waren, mit den Errungenschaften der modernen Technik ver-
quickt. So, daß also auch in solch absolut konservativem Hirn doch eine lang-
same, vielleicht anfänglich abgelehnte, auch heute noch — das gab sie mehrfach
in derbster Weise zu verstehn — sehr kritisch und kalt als bittere Notwendig-
keit empfundene Anpassung an die Gegenwart stattfindet. — Ich lasse nun

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