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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 34.1991

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Nr. 2
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Aktuelle Themen
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Fuhrmann, Manfred: Marx müßte umschulen
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https://doi.org/10.11588/diglit.35875#0042

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12 noch ein wenig Griechisch. Derartige ,,Spezialklassen" aber existierten nur an insgesamt
neun Schulen der ehemaligen DDR: an der Oberschule der Franckeschen Stiftungen (Halle), an
der Thomasschule (Leipzig), an der Kreuzschule (Dresden) und an einigen anderen einst be-
rühmten Bildungsanstalten, unter denen sich allerdings nicht einmal Schulpforta befand.^ Die La-
teinkenntnisse, die in den „Spezialklassen" vermittelt wurden, reichten mit Mühe und Not für
die Lektüre einfachster Prosatexte; der griechische Einführungskurs (zwei Jahre mit je drei Wo-
chenstunden) blieb gänzlich im Elementarlehrbuch stecken. Analog zu diesem Kahlschlag im Se-
kundarbereich wurden auch die Studienmöglichkeiten an den Hochschulen drastisch reduziert:
Nur noch in Jena und Halle (und nicht einmal mehr in Berlin, dessen Altertumswissenschaft einst
Weltruf genossen hatte) konnte man sich zum Altphilologen heranbilden.
Das Zugeständnis der neun Schulen mit „Spezialkiassen" war offenbar nicht durch Rücksichten
auf allgemeine kulturelle Belange oder gar auf individuelle Bildungsbedürfnisse bedingt: das zu-
ständige Ministerium hatte vielmehr errechnet, daß ein bestimmter Nachwuchsbedarf an Spezia-
listen bestehe, die altsprachliche Kenntnisse benötigten, wie Archäologen, Archivare, Philoso-
phen, Orientalisten und andere. Diesen Bedarf veranschlagte man auf jährlich 150-200 Absol-
venten der Abiturstufe, und hierfür schienen neun Schulen mit Altsprachenunterricht ausrei-
chend zu sein. Die Erfahrung sollte zeigen, daß die Kalkulation durchaus nicht aufging.
Jahr für Jahr knapp 200 Abiturienten mit geringen Latein- und gänzlich unzulänglichen Grie-
chischkenntnissen, ferner die Nutznießer des fakultativen Lateinunterrichts, zunächst etwa 3000,
im Jahre 1988 noch knapp 2000 an der Zahl: Auf dieses Häuflein war die Teilhabe an humanisti-
scher Bildung in den Gebieten geschrumpft, die zweihundert Jahre zuvor einen Winckelmann,
einen Voss und einen Friedrich August Wolf hervorgebracht hatten.
Ein Experte für den altsprachlichen Unterricht in der ehemaligen DDR hat unlängst festgestellt,
daß mit Sicherheit nur ein europäisches Land ein noch ungünstigeres Bild darbiete: die Sowjet-
union — dort gibt es nämlich überhaupt keinen altsprachlichen Schulunterricht. Alle übrigen
Länder hingegen können mit besseren, zum Teil erheblich besseren Zahlen aufwarten. In der al-
ten Bundesrepublik lernt etwa die Hälfte aller Gymnasiasten — rund eine Million Schüler — La-
tein, und zwar großenteils so, daß sie nicht nur die ganz leichten Texte zu lesen vermögen und
auch einen Eindruck von der römischen Kultur gewinnen; im Falle des Griechischen sind es nach
den bedauerlichen Einbrüchen der letzten Jahrzehnte immerhin noch fünf Prozent.
Die Folgen des Biidungsgesetzes von 1965 mögen weniger handgreiflich sein als manche andere
Maßnahmen des kommunistischen Regimes, doch spürbar sind auch sie. Ein Herzstück Europas
ist in den Köpfen fast aller seiner Bewohner um die historische Dimension verkürzt; man sieht
sich dort überall, wie es unlängst in einer Reportage über Schulpforta hieß, mit „unbegreiflicher
Geschichte" konfrontiert. In vielen Archiven, berichet ein Kundiger, findet sich niemand mehr,
der die von ihm verwalteten lateinischen Urkunden noch selbst zu lesen vermöchte. Bei der
Marx-Engels-Gesamtausgabe mußten — wegen der griechischen und lateinischen Zitate — Alt-
philologen konsultiert werden, und unter etwa dreißig Nachwuchs-Philosophen der Ost-Berliner
Akademie der Wissenschaften kann, wie eine Anfrage ergab, kein einziger Platon oder Aristote-
les im Original studieren.
Es mag jetzt wichtigere, jedenfalls akutere Probleme geben als die alten Sprachen. Gleichwohl
muß auch hier etwas geschehen. Die Kultur ist ein Ganzes, aus dem nicht ohne Schaden wesent-
liche Teile herausgebrochen werden können. Es geht nicht an, daß die alten Gebäude verfallen;
es geht ebensowenig an, daß ein erheblicher Teil unseres Volkes den geistigen Kräften entfrem-
det bleibt, die Europa zu dem gemacht haben, was es ist.

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