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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 34.1991

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Nr. 2
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Aktuelle Themen
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Fuhrmann, Manfred: Marx müßte umschulen
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https://doi.org/10.11588/diglit.35875#0043

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Schwierigkeiten werden sich auch hier auftun. In der alten Bundesrepublik genießen die klassi-
schen Sprachen keine institutionelle Garantie mehr: man kann auch ohne sie die Hochschulreife
erlangen. Der jedenfalls für Latein nicht unerfreuliche gegenwärtige Zustand beruht also auf der
freien Entscheidung der Eltern: Viele wissen teils aus eigener Erfahrung, teils durch andere, wel-
chen Wert ein gediegener Lateinunterricht für die intellektuelle Entfaltung eines Kindes hat und
was er zur Vertrautheit mit der europäischen Tradition beiträgt. In der ehemaligen DDR ist die
Entwicklung ganz anders verlaufen. Dort wurden nicht die einstigen institutioneilen Garantien
durch immer freiere Wahlmöglichkeiten allmählich abgelöst; dort sind die Fäden zur Vergangen-
heit gänzlich gerissen, und im allgemeinen ist man sich kaum noch bewußt, daß etwas fehlt.
Nicht einmal die wenigen, die dort Griechisch lernten, taten es immer um der Sache willen, son-
dern um sich — wie es in einer Verlautbarung eines der neuen Bildungsministerien heißt —
„rechtzeitig einen Platz zum Abitur zu sichern".
Man ist im Begriff — was sollte man auch anderes tun —, im neuen Teil unseres Staates zu über-
nehmen, was sich im alten in Jahrzehnten entwickelt hat, also auch die Vielfalt der Wahlmöglich-
keiten. Doch Institutionen lassen sich leichter verpflanzen als Einstellungen und Verhaltenswei-
sen; es wird also geduldiger Anstrengungen bedürfen, die Eltern in den richtigen Umgang mit
dieser Vielfalt einzuführen und ihnen zu zeigen, wie sehr die alten Sprachen dazugehören. Es
wäre sonst zu befürchten, daß die geistige Monotonie, weiche das einstige Regime allerorten hin-
terlassen hat, ein permanentes Merkmal der östlichen Bundesländer wird.
MANFRED FUHRMANN
Der Verfasser ist Professer Emeritus der Lateinischen Literatur in Konstanz und Mitglied der Evaluierungskom-
mission des Wissenschaftsrates für die fünf neuen Bundesländer.
Anmerkungen:
Stelle im Feuilleton (S. 31). Es scheint der erste große Aufsatz zu diesem Thema zu sein, der sich an eine
überregionale Öffentlichkeit wendet. Wir danken dem Verfasser und der Redaktion für die Erlaubnis zum
Nachdruck. Die Überschrift stammte nicht vom Verfasser, sondern von der Zeitungsredaktion. Einzelne
Druckfehler sind hier korrigiert. — Hingewiesen sei auf einen weiteren Aufsatz von M. Fuhrmann in der
FAZ vom 17. Mai 1991 (S. 35): „Das klassische Rinnsal war ein unterirdischer Strom — In der DDR wurden
die alten Sprachen unterdrückt, doch die Antikenforschung hat sich behauptet". (Red.)
1 Vgl. Marx-Engels Werke. Ergänzungsband. Schriften bis 1844, Erster Teil. Berlin: Dietz Verlag 1973, S. 257 -
375: Die Doktordissertation. — Ferner: Die Promotion von Karl Marx — Jena 1841. Eine Quellenedition.
Schweinitz. Berlin: Dietz Verlag 1983. (Anm. d. Red.)
Schulen Französisch. Seit 1952 gab es spezielle Schulen, die Russisch bereits ab Klasse 3 anboten (sog. ,,R-
Klassen"); zunächst waren es ca. 35, später etwa 50 in allen größeren Städten der DDR. Mitte der 70er Jah-
re wurde an der Herder-Schule im Bezirk Lichtenberg von Berlin die Möglichkeit eröffnet, daß Kinder auch
3 Die Regelung der zweiklassigen Oberstufe galt also für diese Spezialklassen und die wenigen anderen
Sprachspezialschulen (wo man Spanisch / Französisch / Tschechisch oder Polnisch wählen konnte) nicht.
(Anm. d. Red.)

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