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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 34.1991

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Nr. 3
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Aktuelle Themen
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Clauss, Manfred: Die Zukunft nicht ohne die Antike: Eine Rechtfertigung des altsprachlichen Unterrichts ex eventu
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https://doi.org/10.11588/diglit.35875#0076

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7.7 Der Ver/ust an Kultur
Den nachhaltigsten und wohl auch deprimierendsten Eindruck hinterläßt das Ambiente der ehe-
maligen DDR: die Verwahrlosung der Städte und Dörfer, das Verfallen und Vermodern herrlicher
Bausubstanz, und damit verbunden die Vernachlässigung von Natur und Umwelt, der beängsti-
gende Zustand der Flüsse, der Bäume, der Luft und der Erde. Der Sinn für Kultur, der auch die
Pflege der Natur als einen notwendigen Lebensraum einschließt, ist weithin verloren oder kaum
gefördert. Verantwortung dafür kannte man bislang nicht. In den Menschen schien kaum das Be-
dürfnis nach Erhalten und Bewahren angelegt. Konservatives Denken war dem Staat zuwider und
dem Bürger, da weithin ohne Eigentum und auf das physische Überleben bedacht, nicht mög-
lich. Wer stets mit einem Bein in der Gegenwart, mit dem anderen in der Zukunft steht, lebt pro-
gressiv, nach vorn gerichtet; er sieht das Vergangene nicht, bricht Traditionen ab; er läßt das, was
einmal war, im wahrsten Sinne des Wortes hinter sich zusammenbrechen. ,,Alles ist
vergänglich!" ,,Was kümmern mich die verfallenen Ruinen eines Gottesackers?". So die Antwor-
ten auf die Frage, warum man den einzigen Campo Santo nördlich der Alpen, ein einstmals groß-
artiges Exemplar in Halle, rücksichtslos der Zerstörung preisgegeben hat. ,,Hat man den Men-
schen total den Sinn für Schönheit genommen?" Die Antwort eines Universitätskollegen auf die-
se Frage war ein entschlossenes Ja. Tristesse total und endlos, mit wenigen Ausnahmen. Kultur-
ästhetische Ambition wurde, wie es scheint, nur dort gefördert oder geduldet, wo sie Vorzeige-
charakter hatte. Dem Volk fehlte die Geschichte, da man die Vergangenheit allenfalls ab 1789
und von da an sehr einseitig in den Blick nahm. Man hatte kaum jene Gelegenheit, die Gegen-
wart nach unten zu durchbrechen, wo sich in den Jahrtausenden oder Jahrhunderten davor eine
unendliche Fülle menschlicher Möglichkeiten im Guten und Bösen vordem nachdenklichen Be-
trachter ausbreitet; man wollte offensichtlich verhindern, von der Vergangenheit her sein Leben
in der Zeit besser, auch differenzierter zu begreifen durch den wechselseitigen Vergleich von
einst und jetzt. Differenziertes Begreifen und Denken war nicht im Sinne des Regimes; es hätte
sich in der Fähigkeit zu Kritik und zum Anderssein-Wollen äußern können.
1.2 Der Ver/ust an Sprache
Demgemäß ist auch die Sprache in ihren subtilen Möglichkeiten des Unterscheidens verarmt,
man hat sie uniformiert, auf schablonenhafte Formen und auf Polit-Jargon einschrumpfen lassen.
Die Menschen seien, so die Feststellung eines kompetenten Gesprächspartners, ,,mehr oder we-
niger systematisch ausdrucksunfähig gemacht worden, um sie staatskonform zu halten". Die
auch der Sprache genuin eigene Bindung an die Vergangenheit hat man krampfhaft gelöst, in-
dem bekanntlich das ,,Osterfest" zum ,,Frühlingsfest", die ,,Weihnachtsfeier" zur,,Jahresendfei-
er" u.ä.m. umbenannt wurden: Entmythologisierung und Abwehr religiöser Traditionen auch im
Sprachschatz des Volkes.
7.3 Ver/ust an S/nnbezügen
Den Menschen ist auf solche Weise ein wesentlicher Bezugsrahmen für ein sinnerfülltes Leben
genommen worden; man merkt dies allenthalben jetzt, da ihnen die Identifikation mit dem politi-
schen System und seinen oft ostentativ dokumentierten Erfolgen (z.B. im Sport, in der Waffen-
technologie) genommen ist. Hinter dem augenblicklichen Kaufrausch der Menschen, dem über-
schießenden Drang, möglichst schnell alles zu bekommen, steckt, wie in vielen Gesprächen ge-
rade mit jungen Leuten spürbar, eine hohe Unsicherheit, ein eklatanter Mangel an Orientierung.
Man ist weithin auf der Suche nach der verlorenen Zeit und Identität. Woran sollen sich die Men-

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