sehen halten? Die Verhaltensmuster des Westens, die zur Zeit nicht selten mit kolonialherrischer
Aufdringlichkeit angeboten werden, stoßen eher ab, als daß sie zur Nachahmung anregen. Die
Ironie des im Umlauf befindlichen Bonmots ,,Ex Oriente lux, ex occidente tuxus!" hat die Men-
schen peinlich getroffen: Das Licht des Ostens ist erloschen; westlicher Materialismus, der sie zu
überrennen droht, wirkt eher verstörend als ermutigend, da er zumeist mit Ellenbogenmentalität
und Übervorteilungsdenken einhergeht. In den Mienen der Menschen spiegelt sich die Gebro-
chenheit ihrer Existenz: Verbittertsein und Warten auf die bessere Zeit, Apathie und einsetzendes
Engagement. Gewiß hat die oft bis zur Verzweiflung gehende Stimmung der Menschen in den
neuen Bundesländern ihren Grund in der Angst um den Arbeitsplatz und in der mangelnden fi-
nanziellen Ausstattung; wer tiefer zu blicken versucht, merkt dahinter die Sinnkrise, die sie in ih-
rem Reden und Handeln lähmt oder zu Überreaktionen veranlaßt. Aus alten Wurzeln gerissen
(,,War wirklich alles, was wir bisher hatten und konnten, so verkehrt?") haben sie wenig, das ih-
nen Halt gibt. Die Freiheit, jenes elementar ersehnte Gut, ist ihnen, so scheint es, noch wenig als
Wert an sich bewußt geworden, zumal sie sich, ehe sie sich versahen, weil andere die neuen
Chancen oft brutal nützen, schon wieder bevormundet glauben; sie fühlen sich schon wieder zu
Statisten ihres eigenen Schicksals gemacht. In einem Gedicht, in dem sich eine Studentin der
Universität Halle ihre Enttäuschung von der Seele schrieb, äußert sich die Sinnkrise gerade der
jungen Menschen in den neuen Bundesländern in beklemmenden Worten:
Das Staatsschiff 1989
Siehe das Schiff in den Wogen! Ach, trauriger sah ich wohl keines!
Bar jeder Aussicht auf Land, treibt es nun ziellos dahin.
Nimmt mit sich meine Hoffnung, die einmal noch neu ward gegeben.
Habe zu früh ich frohlockt, als neue Segel ich sah?
Weil doch der Wind blieb der gleiche, uns treibend zu Wohlstand und Trägheit,
Bleibt uns schon wieder, wie sonst, trostlos im Abseits zu steh'n.
Kerstin Dedek
Verlust an Kultur, Verlust an Sprache, Verlust an Sinnbezügen. Solche 'Ergebnisse' einer jahr-
zehntelangen Entwicklung darf man nicht den davon betroffenen Menschen als Schuld anlasten.
Sie sind zu bedauern; und in ihrer feinen Sensibilität für das, worunter sie im Augenblick zu lei-
den haben, verdienen sie unsere ganze Sympathie und Hilfe. Die Menschen „drüben" bemer-
ken jetzt plötzlich erschreckt das Unheil (eine Passantin: „Wir müßten uns täglich dreimal ohrfei-
gen für das, was wir alles kaputtgehen ließen; doch wir haben es gar nicht gesehen."). Die Kul-
turbarbarei liegt in der Konsequenz einer Ideologie, die den Fortschritt (zu welchem Ende!) zur
ausschließlichen Kategorie des Denkens und Planens machte. Was zurückliegt oder was man zu-
rückläßt, war für ein solchermaßen ausgerichtetes System von keinem Belang. Der Mensch galt
nicht als geschichtliches Wesen, die Vergangenheit nicht als Orientierungsfeld, aus dem auch
tmpulse zur Bewältigung der Gegenwart kommen. Die Tradition hatte alle verbindende Kraft ver-
loren.
2. Die Notwendigkeit der gymnasiaien Schulreform
Man kann nicht umhin, diese Bildungskonzeption, die dem Staatsdenken der ehemaligen 'DDR'
zugrunde lag oder daraus abgeleitet wurde, als in höchstem Maße defizitär zu kennzeichnen.
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Aufdringlichkeit angeboten werden, stoßen eher ab, als daß sie zur Nachahmung anregen. Die
Ironie des im Umlauf befindlichen Bonmots ,,Ex Oriente lux, ex occidente tuxus!" hat die Men-
schen peinlich getroffen: Das Licht des Ostens ist erloschen; westlicher Materialismus, der sie zu
überrennen droht, wirkt eher verstörend als ermutigend, da er zumeist mit Ellenbogenmentalität
und Übervorteilungsdenken einhergeht. In den Mienen der Menschen spiegelt sich die Gebro-
chenheit ihrer Existenz: Verbittertsein und Warten auf die bessere Zeit, Apathie und einsetzendes
Engagement. Gewiß hat die oft bis zur Verzweiflung gehende Stimmung der Menschen in den
neuen Bundesländern ihren Grund in der Angst um den Arbeitsplatz und in der mangelnden fi-
nanziellen Ausstattung; wer tiefer zu blicken versucht, merkt dahinter die Sinnkrise, die sie in ih-
rem Reden und Handeln lähmt oder zu Überreaktionen veranlaßt. Aus alten Wurzeln gerissen
(,,War wirklich alles, was wir bisher hatten und konnten, so verkehrt?") haben sie wenig, das ih-
nen Halt gibt. Die Freiheit, jenes elementar ersehnte Gut, ist ihnen, so scheint es, noch wenig als
Wert an sich bewußt geworden, zumal sie sich, ehe sie sich versahen, weil andere die neuen
Chancen oft brutal nützen, schon wieder bevormundet glauben; sie fühlen sich schon wieder zu
Statisten ihres eigenen Schicksals gemacht. In einem Gedicht, in dem sich eine Studentin der
Universität Halle ihre Enttäuschung von der Seele schrieb, äußert sich die Sinnkrise gerade der
jungen Menschen in den neuen Bundesländern in beklemmenden Worten:
Das Staatsschiff 1989
Siehe das Schiff in den Wogen! Ach, trauriger sah ich wohl keines!
Bar jeder Aussicht auf Land, treibt es nun ziellos dahin.
Nimmt mit sich meine Hoffnung, die einmal noch neu ward gegeben.
Habe zu früh ich frohlockt, als neue Segel ich sah?
Weil doch der Wind blieb der gleiche, uns treibend zu Wohlstand und Trägheit,
Bleibt uns schon wieder, wie sonst, trostlos im Abseits zu steh'n.
Kerstin Dedek
Verlust an Kultur, Verlust an Sprache, Verlust an Sinnbezügen. Solche 'Ergebnisse' einer jahr-
zehntelangen Entwicklung darf man nicht den davon betroffenen Menschen als Schuld anlasten.
Sie sind zu bedauern; und in ihrer feinen Sensibilität für das, worunter sie im Augenblick zu lei-
den haben, verdienen sie unsere ganze Sympathie und Hilfe. Die Menschen „drüben" bemer-
ken jetzt plötzlich erschreckt das Unheil (eine Passantin: „Wir müßten uns täglich dreimal ohrfei-
gen für das, was wir alles kaputtgehen ließen; doch wir haben es gar nicht gesehen."). Die Kul-
turbarbarei liegt in der Konsequenz einer Ideologie, die den Fortschritt (zu welchem Ende!) zur
ausschließlichen Kategorie des Denkens und Planens machte. Was zurückliegt oder was man zu-
rückläßt, war für ein solchermaßen ausgerichtetes System von keinem Belang. Der Mensch galt
nicht als geschichtliches Wesen, die Vergangenheit nicht als Orientierungsfeld, aus dem auch
tmpulse zur Bewältigung der Gegenwart kommen. Die Tradition hatte alle verbindende Kraft ver-
loren.
2. Die Notwendigkeit der gymnasiaien Schulreform
Man kann nicht umhin, diese Bildungskonzeption, die dem Staatsdenken der ehemaligen 'DDR'
zugrunde lag oder daraus abgeleitet wurde, als in höchstem Maße defizitär zu kennzeichnen.
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