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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 34.1991

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Nr. 3
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Clauss, Manfred: Die Zukunft nicht ohne die Antike: Eine Rechtfertigung des altsprachlichen Unterrichts ex eventu
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https://doi.org/10.11588/diglit.35875#0078

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2.7 Die Ro//e der Tradition im Biidungskonzept
Aus solcher Einschätzung ergibt sich aber zugleich der unumstößliche Beweis für die Richtigkeit
all jener Argumente, mit dem im Westen bislang die geisteswissenschaftlichen Fächer ihre Prä-
senz in der Schule vertreten. Woraus nämlich ließe sich ein besserer und überzeugenderer Be-
weis entnehmen als ex eventu, d.h. aus der Erfahrung des tatsächlich eingetretenen Ereignisses.
Die Geschichte hat uns in der ehemaligen 'DDR' und vielleicht auch in den anderen Ostländern
in einem einmaligen Szenario vorgeführt, was passiert, wenn systematisch der unbefangene Zu-
griff auf die Tradition, auf die großen Schöpfungen in allen Formen von Kunst und Literatur abge-
blockt wird, wie sehr die eklatante Verkümmerung der ästhetischen und ethischen Dimensionen
des Lebens die Gemeinschaft in katastrophale Zustände stürzt. Bertolt Brechts Maxime ,,Erst
kommt das Fressen, dann kommt die Moral (weiter gefaßt: die Kultur; d.V.)" hat sich als richtig
und falsch zugleich erwiesen. Die Masse hat sich so verhalten, und es war verkehrt.
Wer diese Beweislage anerkennt, wird sich auch den Folgerungen nicht verschließen. Jede Bil-
dungskonzeption, die Entwicklungen wie im Osten verhindern will, muß mit Notwendigkeit die
'Stoffe' der Vergangenheit in genügender Repräsentation zu Lehr- und Lerninhalten der Schule
machen.
2.2 Die Ausgewogenheit des Biidungsangebots
Im besonderen Maße scheint hier das Gymnasium in die Pflicht genommen; diese Schulform ver-
steht sich seit alters als allgemeinbildende Schule, d.h. als eine Schule, die in ihrem Bildungspro-
gramm alle relevanten Bereiche gleichermaßen berücksichtigt. Vor dem Hintergrund der 'DDR'-
Erfahrung erweist sich das Gymnasium geradezu als notwendige Schulform; es kommt ihm letzt-
lich eine staatserhaltende Verantwortung zu. Das Gymnasium wird allerdings dieser Verantwor-
tung nur dann gerecht, wenn es die Gewichte zwischen den Natur-, Geistes- und Sozialwissen-
schaften gebührend verteilt, also deren Ansprüche in Rücksicht auf die umfassende Zielsetzung
ausbalanciert. Das bedeutet auch, daß den Fächern ihr Rang belassen oder gestärkt werden muß,
deren teilweises oder ganzes Fehlen oder deren ideologische Verzerrung die Misere im Osten
mitverursachte: dem Geschichtsunterricht, den kultur- und sprachhistorischen Fächern wie La-
tein und Griechisch, der Philosophie, der Ethik und Religionslehre, dem Deutsch- und Kunstun-
terricht.
Zugleich leuchtet ein, daß die Summe aller Bildungsanliegen der im Gymnasium zu bietenden
Fächer eine ausgedehnte Lehrzeit beansprucht; verantwortungsvolle Bildungsplanung, die die
Verantwortung des Gymnasiums anerkennt und ernst nimmt, kann deshalb nur für die Beibehal-
tung des 13. Schuljahres plädieren.
Wer demnach im Aufbruch nach Europa und mit Rücksicht auf die dadurch bedingte Schulzeit-
verkürzung die naturwissenschaftlichen und neusprachlichen Fächer übergewichtet, unter Zu-
rückdrängung der anderen, weil zu allererst die wirtschaftliche und technologische Konkurrenz-
fähigkeit gewährleistet sein müsse, greift in seinen Überlegungen zu kurz; er verschließt die Au-
gen vor der ganzen Wirklichkeit, aus der Glück und Gedeihen eines Staates oder einer Staaten-
gemeinschaft erwachsen; er leistet letztlich einer Mentalität Vorschub, die eine einseitige politi-
sche Ideologie, der der Siegeszug über ganz Europa versagt blieb, durch eine nicht weniger ein-
seitige ökonomische Ideologie ersetzt. Bildungspragmatismus, das Denken in den Kategorien des
Nutzens und der sofortigen Verwertbarkeit lassen Verantwortungssinn, Sensibilität für das
Erhaltens- und Schonenswerte, humane Lebensorientierung, Kunstsinn und Mußefähigkeit, Er-
fahren von sinnstiftenden Werten, Bereitschaft und Fähigkeit zu Kritik — alles mit Evidenz nötige

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