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Leon Bouchet, Paris
Wohnzimmer. — Wandbespannung aus grauem Rupfen, Diwan und Sessel in Mauve und rosa Samt.
Ausgeführt von Dennery, ausgestellt im Salon des Artistes Decorateurs.
MODERNE FRANZÖSISCHE RAUMKUNST
Werke der Ausstellung im Salon des Artistes Decorateurs
Wer je die Verkaufsräume französischer Möbelhäuser betreten
hat, ist sicher erschreckt gewesen über den Rückstand in
der modernen Raumkunst, der sich dort dem Beschauer zeigt. Es
ist noch immer der Salonstil in der Art des späten Louis XVI., der
den allgemeinen Geschmack beherrscht. Jene repräsentative Note,
die dem Franzosen in seiner Lebensart eigen ist, prägt sich in
diesem zähen Festhalten an der überkommenen Salonkultur deut-
lich aus. Und doch hat die allgemeine Entwicklung der Lebens-
anschauung und Lebenshaltung selbstverständlich auch in Frank-
reich große Fortschritte gemacht und auch in der Bau- und
Raumkunst neue Wege eingeschlagen. Gewiß, es sind im Ver-
hältnis zu Deutschland noch wenige augenfällige Anzeichen bis
jetzt da. Das Stadtbild von Paris bleibt sich ebenso in der Groß-
artigkeit seiner imposanten Boulevards wie auch in der kasernen-
mäßigen Nüchternheit der eigentlichen Wohnviertel gleich. Aber
es gibt doch bei Paris in Auteuil und Vaucresson Bauten von
Le Corbusier, die mit scharfsinniger Kühnheit von jener ver-
blichenen Palastfassadenarchitektur zum modernen Wohnkubus
streben; es gibt bereits eine Rue Mallet-Stevens, die erstmalig
wohl für Frankreich ein vollkommen modernes Wohnstraßenbild
bieten. Und nun zeigt die Ausstellung des Salon des Artistes
Decorateurs, daß auch in der Raumgestaltung energische Schritte
zu neuer Formenprägung gemacht worden sind. Allerdings hatte
die letzte große Kunstgewerbeausstellung in Paris deutlich er-
wiesen, daß der Jugendstil ein für Frankreich noch immer wirk-
samer Faktor ist. Überblickt man die hier abgebildeten Räume, so
wird die gleiche Erkenntnis durch die Art mancher Linienführung
und Flächenabgrenzung noch lebendig. Im ganzen genommen ist
der Schritt zum modernen Stilwillen jedoch so offensichtlich aus-
geprägt, daß wir hier der Architektur Le Corbusiers, Freyssinets
und Mallet-Stevens’ Gleichartiges vor uns sehen. Ja, man muß sogar
konstatieren, daß diese Möbel selbst Architektur sein wollen —
in ganz anderem Maße als in Deutschland. Unsere behagliche
Intimität und anheimelnde Wohnlichkeit zeigen die französischen
Innenräume nicht, statt dessen aber eine fast abstrakte Klarheit
der Form. Das lineare Element beherrscht den Raum nicht nur
in der kubisch klaren Flächenbegrenzung, sondern auch die Flächen
selbst in ihrer linearen Aufteilung verraten das gleiche Prinzip. Es
ist derselbe Geist, der aus der abstrakten Tektonik jener Bauten
von Le Corbusier spricht, der hier im Möbelbau die fast syste-
matisch strenge Konstruktion bedingt. Zweifellos verkörpern diese
Formen eine gewisse vornehme Eleganz, aber von solcher Strenge
der Erscheinung, daß das Streben nach neuer architektonisch be-
dingter Raum- und Möbelform fast asketisch wirkt. Die rein
formale Gestaltung dominiert absolut im Gesamteindruck. Das
allgemeine Ziel ist im Grunde aber das gleiche wie in allen
Ländern moderner abendländischer Kultur überhaupt: Von der
konventionellen Form vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte
sich abzuwenden und einen der neuen Zeit und ihren Äußerungen
adäquaten Stil zu suchen. Dr. M.
Leon Bouchet, Paris
Wohnzimmer. — Wandbespannung aus grauem Rupfen, Diwan und Sessel in Mauve und rosa Samt.
Ausgeführt von Dennery, ausgestellt im Salon des Artistes Decorateurs.
MODERNE FRANZÖSISCHE RAUMKUNST
Werke der Ausstellung im Salon des Artistes Decorateurs
Wer je die Verkaufsräume französischer Möbelhäuser betreten
hat, ist sicher erschreckt gewesen über den Rückstand in
der modernen Raumkunst, der sich dort dem Beschauer zeigt. Es
ist noch immer der Salonstil in der Art des späten Louis XVI., der
den allgemeinen Geschmack beherrscht. Jene repräsentative Note,
die dem Franzosen in seiner Lebensart eigen ist, prägt sich in
diesem zähen Festhalten an der überkommenen Salonkultur deut-
lich aus. Und doch hat die allgemeine Entwicklung der Lebens-
anschauung und Lebenshaltung selbstverständlich auch in Frank-
reich große Fortschritte gemacht und auch in der Bau- und
Raumkunst neue Wege eingeschlagen. Gewiß, es sind im Ver-
hältnis zu Deutschland noch wenige augenfällige Anzeichen bis
jetzt da. Das Stadtbild von Paris bleibt sich ebenso in der Groß-
artigkeit seiner imposanten Boulevards wie auch in der kasernen-
mäßigen Nüchternheit der eigentlichen Wohnviertel gleich. Aber
es gibt doch bei Paris in Auteuil und Vaucresson Bauten von
Le Corbusier, die mit scharfsinniger Kühnheit von jener ver-
blichenen Palastfassadenarchitektur zum modernen Wohnkubus
streben; es gibt bereits eine Rue Mallet-Stevens, die erstmalig
wohl für Frankreich ein vollkommen modernes Wohnstraßenbild
bieten. Und nun zeigt die Ausstellung des Salon des Artistes
Decorateurs, daß auch in der Raumgestaltung energische Schritte
zu neuer Formenprägung gemacht worden sind. Allerdings hatte
die letzte große Kunstgewerbeausstellung in Paris deutlich er-
wiesen, daß der Jugendstil ein für Frankreich noch immer wirk-
samer Faktor ist. Überblickt man die hier abgebildeten Räume, so
wird die gleiche Erkenntnis durch die Art mancher Linienführung
und Flächenabgrenzung noch lebendig. Im ganzen genommen ist
der Schritt zum modernen Stilwillen jedoch so offensichtlich aus-
geprägt, daß wir hier der Architektur Le Corbusiers, Freyssinets
und Mallet-Stevens’ Gleichartiges vor uns sehen. Ja, man muß sogar
konstatieren, daß diese Möbel selbst Architektur sein wollen —
in ganz anderem Maße als in Deutschland. Unsere behagliche
Intimität und anheimelnde Wohnlichkeit zeigen die französischen
Innenräume nicht, statt dessen aber eine fast abstrakte Klarheit
der Form. Das lineare Element beherrscht den Raum nicht nur
in der kubisch klaren Flächenbegrenzung, sondern auch die Flächen
selbst in ihrer linearen Aufteilung verraten das gleiche Prinzip. Es
ist derselbe Geist, der aus der abstrakten Tektonik jener Bauten
von Le Corbusier spricht, der hier im Möbelbau die fast syste-
matisch strenge Konstruktion bedingt. Zweifellos verkörpern diese
Formen eine gewisse vornehme Eleganz, aber von solcher Strenge
der Erscheinung, daß das Streben nach neuer architektonisch be-
dingter Raum- und Möbelform fast asketisch wirkt. Die rein
formale Gestaltung dominiert absolut im Gesamteindruck. Das
allgemeine Ziel ist im Grunde aber das gleiche wie in allen
Ländern moderner abendländischer Kultur überhaupt: Von der
konventionellen Form vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte
sich abzuwenden und einen der neuen Zeit und ihren Äußerungen
adäquaten Stil zu suchen. Dr. M.