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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 9.1895

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Mann, Heinrich: Irrthum: Novellette von Heinrich Mann
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https://doi.org/10.11588/diglit.19627#0140

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jeder Tag, um den sich die gegebene Frist
verminderte, vermehrte meine Herzensangst.

Der Heilige Abend war gekommen, viel-
leicht noch in der Nacht sollte Ihr Gatte
zurückkehren.

Ich sehe es, wir standen am weihnacht-
lichen Tische, den Sie ordneten. Tags über
hatte ich Ihnen beim Aulputz des Baumes
geholfen und das fortwährende Aneinander-
streifen unserer Kleider, die Berührung
Ihrer Hände hatte mich zugleich toll ge-
macht und entnervt. Schwach und fiebernd
hielt ich mich kaum auf den Beinen, allein
von meinem namenlosen Verlangen mich
zu erklären, unterstützt. Und die Zeit ver-
rann. Jede Minute bohrte sich mir jetzt
mit einem Dolchstich in die Seele, ich
musste — musste sprechen, ich öffnete ge-
waltsam meine trocknen heissen Lippen —
und schwieg.

Da traf mich Ihr prüfender Blick und
ohne einen Gedanken faltete ich die Hände
und so, mit gerungenen Händen vor Ihnen
stehend, fühlte ich Thränen, wie heisse
Nadeln, in meine Augen schicssen. Als ich
durch den Schleier hindurch wieder sah,
nahm ich auch Ihre schönen Augen ver-
schleiert wahr. Sie hatten Ihr Gesicht dem
meinen genähert. „Armer, guter Junge!"
sprachen Sie langsam.

Mit den Thränen war mir auch die
Zunge gelöst.

„Warum hast Du mich so lange unglück-
lich gelassen?" stiess ich hervor.
„Nicht unvernünftig sein!" baten Sie, und
als Sie mich aufbegehren sahen: „Kind! Kind!"
drohten Sie.

„Unvernünftig! Kind!" rief ich voll Verzweiflung
aus. „So liebst Du mich also nicht?!" Und kindisch
weiter, besinnungslos: „Aber warum, warum denn
nicht!"

„Weil ich meinen Mann liebe."

Elisabeth, gestatten Sie das Bekenntniss, das der
Jüngling auch noch in der höchsten, verzweifelten
Wuth, die dieses Ihr Wort in ihm entfesselte, ver-
schlossen hielt, dem Greise: das Bekenntniss des
Zweifels, den ich nur durch dies Bekenntniss büssen
kann. Denn es ist wahr, dass ich in jener Stunde an
Ihrer Wahrheit gezweifelt habe, dass ich Ihre Güte
und Ihr Mitleid, Alles für ein Spiel gehalten habe,
eines dieser alltäglichen Spiele, darin eine Frau den
Frieden und das Lebensglück eines Mannes als Ein-
sätze benutzt.

Dennoch meine ich Sie weder wegen dieses
Zweifels noch wegen des Auftritts der nun folgte, um
Verzeihung bftten zu sollen: weiss ich doch, dass Sie
längst vergeben, vielleicht gar vergessen haben mit
der Vergesslichkeit des Glücklichen. Ich sehe Sie,
wie Sie sich erstaunt fragen, ob es möglich, dass
einem Andern in mancher Stunde und bis an die
Schwelle des Grabes, vor der Seele gestanden sein
sollte, was Ihnen selbst nach einer kurzen Krise vor-
übergegangen. Ich sehe aucli Ihre Herzensheiterkeit
bei der Leetüre dieser Erinnerungen wieder von diesem
schönen Mitleid verklärt, das Sie sogar bis in jenen
Auftritt hineinbrachten, den ich nun schildern muss,
sei es nur um meine Busse zu vollenden.
 
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