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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 9.1895

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Hevesi, Ludwig: Frühling in Nizza
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Höcker, Paul Oskar: Frühlingsstimmungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.19627#0202

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MODERNE KUNST.

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wirbelnd, wie die Spitzkugel aus einem gezoge-
nen Flintenlauf. Ein berühmter Luftzug das: kein
Wunder, dass das von ihm bestrichene Casino
schon einmal verkracht ist. Dieses Stückchen
Klima ist das ungünstigste unter den zwölf
verschiedenen Klimas, die es in Nizza giebt
und deren jedes der Arzt nach Bedarf ver-
schreibt.

Ungefährlicher ist es unter den Palmen,
Caroubiers und Araucarien des Jardin Public,
wo die Magnolie blüht und die berühmte Gold-
orange duftet. Das ist die grosse Flirtstation,
in deren Mitte ein Pavillon voll Musik steht, wie
eine riesige Voliere voll Singvögel in einem
Thiergarten. Hier flirtet Alles, selbst jene Wä-
scherinnen, die hier — zwanzig Jahre, ehe sie
in den Paillon steigen und auf nasses Linnen
losklatschen — pikante junge Bonnen und der-
gleichen sind. Wer vornehme Ohren hat, geht
freilich lieber zu der kostspieligen Musik im
Cercle de la Mediterranee, im mittelländischen
Club. Da sitzen die Damen steif, als würden
ihnen bei der ersten Bewegung goldene Kronen
vom Haupte fallen. Da geben sich die Brillanten
ihr funkelndes Stelldichein und Toiletten des
seligen Worth messen einander mit hochfahren-
den Blicken. Noch schöner freilich ist es aut
der grossen Estacade, der jetee promenade, die
zum Casino marin führt. Da sieht es asiatisch aus;
ein japanisch-chinesischer Krieg von Bauformen,
mit etwas Koreanisch gemischt, und mit etwas
Russisch gemischt; modernes Alhambra, für
tausend und eine Nacht aufgebaut und dann
abgebrannt. Aber einstweilen ist es schön.
Ein Märznachmittag, oder ein Aprilabend, oder
eine Mainacht auf diesen Terrassen, unter diesen
bunten Zelten, mit einer Schaar rosenrother
Ballctbcine vor sich in der Luft, . . . ach, Ver-
zeihung! es kann ja auch zufällig nur leichtge-
schürzte Pausencomödie oder Operette sein,
oder eine Tombola, oder eine Kermes, oder
eine russische Bauernhochzeit mit einem vorzüglich nachgemachten Admiral
Avelan, oder eine Bouille-ä-Baisse, ein aristokratisches Fischessen zu 20 Francs,
oder ein Sportfest in Jockeycostümen, die Kleider hochgeschürzt, um die
Kappenstiefcl, die „hessians" zu zeigen, oder eine andalusische Nacht mit
Seebad-Nixen in lampionbehangenen Gondeln, unter Guitarrenklang und Ca-
stagnettengcklapper, oder . . . Was weiss ich? Es ist der Frühling in seinen
Paillon, in dessen Kiesbett die Wäscherinnen reihenweise knicend Wäsche tausend Formen, mit seinen ungezählten Reizen; der Frühling im reichen
waschen; womit, das hat noch kein Naturforscher ermittelt. Die Wäscherinnen Süden, am gnädigen Meer, wo der Vollmond eine Sonne ist und die Sonne
des Paillon, o. die halten den scharfen Luftzug aus. der von den Schneehöhen eine zauberhafte Gralsschüssel, und jeder Mensch ein Konig, ein Gott . . .
des Col di Tcnda durch diese Stromschlucht niederfährt, schraubenförmig einher- sofern er nur das nöthige Baargeld mitgebracht hat.

rühlings Stimmungen.

Von Paul Oscar Höcker.

("us dem grämlichen Winterhimmel lugte die Sonne verstohlen hervor. Ver- viel auszusetzen hatte, dass er seinen mondelangen Begleiter verschämt daheim

schieiert war ihr Blick und kühl. Selten nur durchdrang sie in voller Pracht liess — er holte sich ohne Gnade einen Schnupfen,
die neidischen Nebelwogen, sieghaft leuchtend und wärmend. Doch wenn es .x. „

geschah, dann freute sich alles, was Odem hatte. Als ob Feiertag sei, so glänzten

die Menschenaugen. Und frohe Ahnung zog in die Brust der unter dem Druck Endlich aber hat Frau Sonne ein Einsehen. Die Schneedecke, die wie ein

des harten langen Winters seufzenden grossen und kleinen Lebewesen. Für- grosses Leichentuch sich ausgebreitet hat über Wiese und Ackerland, zerschmilzt

witziges Volk gefiederter Sänger wagte sich auf weite gefährliche Reisen, die vor ihren alles durchdringenden Sendboten — die langgestreckten Eisflächen der

Schnecke, die Eidechse und die Fledermaus ermunterten sich vom langen Winter- Flussläufe biegen und krümmen sich und zerkrachen in Milliarden von Schollen,

schlaf, neugierig lugte der Dachs aus seiner Erdhöhle, in der er sich behagliche die ungestüm zu Thale treiben. Höher und immer höher erhebt sich die Ilimmels-

Kissen aus Heu und Baumblättern bereitet hatte — und der steucrzahlende königin. Die Natur hat ihr Winterkleid abgestreift. Nun liegt sie da in ihrer

Bürger der grossen Stadt stand in der geheizten Stube, sah mit seiner Brille herben unberührten Schöne, jungfräulich schier; und doch schlummert schon in

durch's Doppelfenster, constatirte, dass der Frühling da sei — und nahm eine ihrem Schooss die unerschöpfliche Fülle reichster Segenspenden. Ein wohliger

tiefsinnige Statistik auf über städtische Schneefall-Unkosten, über Kohlenverbrauch würziger Hauch geht durch das Land. Es sprosst und keimt und treibt und

und Influenza. — Doch die Sonne hatte sich nur einen tückischen Spass erlaubt. quillt — doch blüht's noch nicht. Kein Gras, kein Halm deckt die Blossen der

Ihr Lächeln war geschminkt — und der Jubel verfrüht. Manch' bunter Sänger, schwärzlichen thaufeuchten Erde. Und dennoch duftet's auf der Wiese, im

der von ehrenreichem Gastspiel fern an afrikanischer Küste zurückkehrte, sah Garten, am Waldesrand, am Wasser — aufregend und lindernd, kräftigend und

unter dem trügerischen lichtblauen Himmel der Heimath seiner kurzen Carriere wonnig ermattend — zart und keusch gleich dem Hauch aus jungfräulichem

ein jähes Ziel gesetzt — und der undankbare Mensch, der im schärferen Licht Munde. Frühlingsdüfte! . . . Doch nicht nur in nordischen Landen weckt

des ersten goldenen Sonnenstrahls an seinem Winterpelz mit einem Mal so gar Frühlingsahnen neues Hoffen und neues Leben. Inbrünstiger noch als diesseits
 
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