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MODERNE KUNST.
Er klopfte Frau Amalie sanft auf die Wange und küsste sie noch
einmal; dann fasste er Leo's Kopf an beiden Ohren und schüttelte ihn
kräftig hin und her; dann hob er Mia's Kinn empor und schaute ihr zärt-
lich in die Augen, und dann ging er leise vor sich hinlachend hinaus.
Den Shlips nahm er mit. Die Drei aber standen eine Weile wie gelähmt
und starrten sich an. Bis Frau Amalie plötzlich anfing zu weinen.
„Oh, wie er gut ist! Wie gut er ist! Nur einen Shlips hat er für
sich gekauft; nur einen Shlips!" Es war wie ein Kommando. Sie fingen
alle drei an zu weinen und dann fielen sie sich mit einem Male um den
Hals und lachten . . lachten . . .
Und sahen es nicht, dass Winands Gesicht noch einmal in der halb-
geöffneten Thür erschien. „Ich habe noch etwas vergessen!" sagte er
zögernd. „Das Fremdenzimmer muss morgen, sobald die Tapezierer damit
fertig sind, gleich in Stand gesetzt werden. Wir bekommen abends näm-
lich Besuch. Der junge Wichers ist's, der Sohn des alten!"
Er schloss die Thür wieder hinter sich. Nun lachten sie nicht mehr,
Frau Amalie und Mia. Nur Leo lachte noch kurz und bitter, und gab
ihrem Haufen einen Stoss, dass er vom Tisch zur Erde rollte. „Wenn er
glaubt, dass et'8 damit erreicht . . . nicht ein Stück rühre ich davon an!"
Wieder brannte die ganze Nacht hindurch im Zimmer des Herrn
von Rocholl Licht, und wieder lagen die Bücher und Papiere aus dem
Geheimfach des Secretärs vor ihm. Aber der alte Herr rechnete diesmal
nicht, er las nur immer und immer wieder das Document durch, das heute
nun zu den übrigen gekommen, die gerichtliche Todeserklärung seines
Stiefbruders Fritz von Rocholl, des Amerikaners, der seit nun achtzehn
Jahren verschollen war. Niemand hatte seinen Aufenthalt ausfindig zu
machen vermocht, und niemals hatte er auf die alljährlich mehrere Male
wiederholten öffentlichen Aufforderungen ein Lebenszeichen von sich ge-
geben.
Nun war kein Zweifel mehr möglich: Fritz von Rocholl war todt!
Nun hatte auch das Gericht es anerkannt und das Erbe des Aermsten
dessen einzigen Verwandten, dem Herrn von Rocholl auf Rochollshof,
Templin und Amalienruh, zugesprochen. Und dieses Erbe . . .
Winand's Auge streifte melancholisch das Buch mit dem Stammkapital
und dem Facit der achtzehn Jahre. Dann lehnte er sich schwer in seinen
Sessel zurück und starrte sinnend in's Leere. Und vor seinem Geiste stieg
es herauf in scharfen, klaren Umrissen, das Hungerloos der Vergangenheit.
Nichts war den Rocholl's nach dem Tode des verschwenderischen
Vaters von ihrem reichen Besitz geblieben, als der stark verschuldete
Rochollshof, das Stammgut der Familie. Winand hatte ihn übernommen
und ein Leben bitterer Entsagung und harter Arbeit voll, war gefolgt.
Kaum dass er Malchen Lchnhardt, die lange aussichtslos Geliebte, heim-
zuführen vermocht hatte. Dennoch hatte er nicht verzagt. Seine ganze
Kraft hatte er freudig und mit eiserner Energie an die Erreichung seines
hohen Zieles gesetzt: die Erhaltung des Vorhandenen und die Wieder-
gewinnung des Verlorenen. Wohl war Fritz, der Spross aus der zweiten,,
kurzen Ehe des Verstorbenen, nach dem Hausgesetz derer von Rocholl
leer ausgegangen, aber hatte sich Winand nicht allezeit gemüht, ihm ei»
zweiter Vater zu werden, es ihm an nichts fehlen zu lassen?
Hatte er das ungestüme, von dem Heimgegangenen ererbte, zur Leicht-
fertigkeit reizende Naturell des Knaben nicht stets einzudämmen und in
ruhigere Bahnen zu leiten gesucht? Hatte er ihm nicht eine weit über
die ärmlichen Verhältnisse der Familie hinausgehende kostspielige Er-
ziehung gegeben, ihm mit schweren Opfern den Weg zur vornehmsten
Carriere des Staates, zur Offizierslaufbahn, geebnet? Hatte er sich und
den Seinen nicht das Nothwendige vom Munde abgespart, um es Jenem
zu geben?
Nein; Winand von Rocholl traf kein Vorwurf, er hatte seine Pflicht
bis in's Kleinste erfüllt; mehr als seine Pflicht! Während Fritz . . .
Unwillkürlich kräuselte etwas wie ein Lächeln die Lippen des Sinnenden.
Vierzehn Tage vorher war Mia auf den Rochollshof gekommen, um
dort erzogen zu werden, nachdem ihre Geburt ihrer Mutter, Malchens
verwittweter Schwester, das Leben gekostet hatte. Malchens Fassung hatte
unter dem traurigen Ereigniss stark gelitten, und so waren sie in jener
stürmischen Winternacht plötzlich in die Welt hereingeschneit, Otti und
Leo, die Zwillinge. Und nichts war vorbereitet und Niemand dagewesen,.
Winand zu helfen. Malchen aber hatte leise stöhnend und todtenbleich
auf ihrem Schmerzenslager gelegen und Mia in ihrer Wiege in dem einen,
Otti in einer Sophaecke in dem anderen und Leo in einem Waschkorb
auf Winand's Sommer- und Winterlodenjoppe im dritten Zimmer. Und
dann hatten diese drei jämmerlich winzigen, zerbrechlichen, blau angelaufenen^
Wesen angefangen zu schreien ... zu schreien . . . Malchen war in
Weinen ausgebrochen.
„O, Winand, ob sie wohl Hunger haben?"
Winand war vor ihrem Bette auf die Kniee gefallen und hatte auch'
geweint.
„Hunger, Malchen! Sie werden immer Hunger haben, ihr ganzes
Leben lang. Denn wie kann der Rochollshof sie alle satt machen? Und
so werden sie hungern, die Unglückswürmer, hungern . . ."
Da war endlich die weise Frau aus der Stadt gekommen und hatte
Winand aus Malchens Zimmer hinausgeworfen.
„Die Frau muss Ruhe haben!" hatte sie gescholten. „Zum Donner-
Generalansicht von Homburg von der Hardt aus
MODERNE KUNST.
Er klopfte Frau Amalie sanft auf die Wange und küsste sie noch
einmal; dann fasste er Leo's Kopf an beiden Ohren und schüttelte ihn
kräftig hin und her; dann hob er Mia's Kinn empor und schaute ihr zärt-
lich in die Augen, und dann ging er leise vor sich hinlachend hinaus.
Den Shlips nahm er mit. Die Drei aber standen eine Weile wie gelähmt
und starrten sich an. Bis Frau Amalie plötzlich anfing zu weinen.
„Oh, wie er gut ist! Wie gut er ist! Nur einen Shlips hat er für
sich gekauft; nur einen Shlips!" Es war wie ein Kommando. Sie fingen
alle drei an zu weinen und dann fielen sie sich mit einem Male um den
Hals und lachten . . lachten . . .
Und sahen es nicht, dass Winands Gesicht noch einmal in der halb-
geöffneten Thür erschien. „Ich habe noch etwas vergessen!" sagte er
zögernd. „Das Fremdenzimmer muss morgen, sobald die Tapezierer damit
fertig sind, gleich in Stand gesetzt werden. Wir bekommen abends näm-
lich Besuch. Der junge Wichers ist's, der Sohn des alten!"
Er schloss die Thür wieder hinter sich. Nun lachten sie nicht mehr,
Frau Amalie und Mia. Nur Leo lachte noch kurz und bitter, und gab
ihrem Haufen einen Stoss, dass er vom Tisch zur Erde rollte. „Wenn er
glaubt, dass et'8 damit erreicht . . . nicht ein Stück rühre ich davon an!"
Wieder brannte die ganze Nacht hindurch im Zimmer des Herrn
von Rocholl Licht, und wieder lagen die Bücher und Papiere aus dem
Geheimfach des Secretärs vor ihm. Aber der alte Herr rechnete diesmal
nicht, er las nur immer und immer wieder das Document durch, das heute
nun zu den übrigen gekommen, die gerichtliche Todeserklärung seines
Stiefbruders Fritz von Rocholl, des Amerikaners, der seit nun achtzehn
Jahren verschollen war. Niemand hatte seinen Aufenthalt ausfindig zu
machen vermocht, und niemals hatte er auf die alljährlich mehrere Male
wiederholten öffentlichen Aufforderungen ein Lebenszeichen von sich ge-
geben.
Nun war kein Zweifel mehr möglich: Fritz von Rocholl war todt!
Nun hatte auch das Gericht es anerkannt und das Erbe des Aermsten
dessen einzigen Verwandten, dem Herrn von Rocholl auf Rochollshof,
Templin und Amalienruh, zugesprochen. Und dieses Erbe . . .
Winand's Auge streifte melancholisch das Buch mit dem Stammkapital
und dem Facit der achtzehn Jahre. Dann lehnte er sich schwer in seinen
Sessel zurück und starrte sinnend in's Leere. Und vor seinem Geiste stieg
es herauf in scharfen, klaren Umrissen, das Hungerloos der Vergangenheit.
Nichts war den Rocholl's nach dem Tode des verschwenderischen
Vaters von ihrem reichen Besitz geblieben, als der stark verschuldete
Rochollshof, das Stammgut der Familie. Winand hatte ihn übernommen
und ein Leben bitterer Entsagung und harter Arbeit voll, war gefolgt.
Kaum dass er Malchen Lchnhardt, die lange aussichtslos Geliebte, heim-
zuführen vermocht hatte. Dennoch hatte er nicht verzagt. Seine ganze
Kraft hatte er freudig und mit eiserner Energie an die Erreichung seines
hohen Zieles gesetzt: die Erhaltung des Vorhandenen und die Wieder-
gewinnung des Verlorenen. Wohl war Fritz, der Spross aus der zweiten,,
kurzen Ehe des Verstorbenen, nach dem Hausgesetz derer von Rocholl
leer ausgegangen, aber hatte sich Winand nicht allezeit gemüht, ihm ei»
zweiter Vater zu werden, es ihm an nichts fehlen zu lassen?
Hatte er das ungestüme, von dem Heimgegangenen ererbte, zur Leicht-
fertigkeit reizende Naturell des Knaben nicht stets einzudämmen und in
ruhigere Bahnen zu leiten gesucht? Hatte er ihm nicht eine weit über
die ärmlichen Verhältnisse der Familie hinausgehende kostspielige Er-
ziehung gegeben, ihm mit schweren Opfern den Weg zur vornehmsten
Carriere des Staates, zur Offizierslaufbahn, geebnet? Hatte er sich und
den Seinen nicht das Nothwendige vom Munde abgespart, um es Jenem
zu geben?
Nein; Winand von Rocholl traf kein Vorwurf, er hatte seine Pflicht
bis in's Kleinste erfüllt; mehr als seine Pflicht! Während Fritz . . .
Unwillkürlich kräuselte etwas wie ein Lächeln die Lippen des Sinnenden.
Vierzehn Tage vorher war Mia auf den Rochollshof gekommen, um
dort erzogen zu werden, nachdem ihre Geburt ihrer Mutter, Malchens
verwittweter Schwester, das Leben gekostet hatte. Malchens Fassung hatte
unter dem traurigen Ereigniss stark gelitten, und so waren sie in jener
stürmischen Winternacht plötzlich in die Welt hereingeschneit, Otti und
Leo, die Zwillinge. Und nichts war vorbereitet und Niemand dagewesen,.
Winand zu helfen. Malchen aber hatte leise stöhnend und todtenbleich
auf ihrem Schmerzenslager gelegen und Mia in ihrer Wiege in dem einen,
Otti in einer Sophaecke in dem anderen und Leo in einem Waschkorb
auf Winand's Sommer- und Winterlodenjoppe im dritten Zimmer. Und
dann hatten diese drei jämmerlich winzigen, zerbrechlichen, blau angelaufenen^
Wesen angefangen zu schreien ... zu schreien . . . Malchen war in
Weinen ausgebrochen.
„O, Winand, ob sie wohl Hunger haben?"
Winand war vor ihrem Bette auf die Kniee gefallen und hatte auch'
geweint.
„Hunger, Malchen! Sie werden immer Hunger haben, ihr ganzes
Leben lang. Denn wie kann der Rochollshof sie alle satt machen? Und
so werden sie hungern, die Unglückswürmer, hungern . . ."
Da war endlich die weise Frau aus der Stadt gekommen und hatte
Winand aus Malchens Zimmer hinausgeworfen.
„Die Frau muss Ruhe haben!" hatte sie gescholten. „Zum Donner-
Generalansicht von Homburg von der Hardt aus