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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 9.1895

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Schumacher, Heinrich Vollrat: Das Hungerloos, [10]: humoristischer Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.19627#0231

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MODERNE KUNST.

Sic standen sich gegenüber, Auge in
Auge. Und nie war dem alten Manne das
Kind so schön, so liebenswerth erschienen,
wie jetzt, da er ihr wehe thun musste. Aber
es musste sein.

Und so wandte sich Winand von Rocholl
wortlos ab und tastete nach der Thür zu
seinem Zimmer.

Aus Otti's Brust kam ein zitternder Ton.

„Papa! Weisst Du, dass ich dann nie,
niemals wieder . .?"

Er senkte das Haupt.

„Thu', was Du musst!"

Die Thür fiel hinter ihm zu, und der
Schlüssel drehte sich im Schloss. Und drin-
nen blieb der alte Mann in sich zusammen-
gesunken stehen und horchte auf das Rau-
schen von Otti's Gewände, bis es verklun-
gen war.

Weisst Du, dass ich dann nie, niemals
wieder . .?

Draussen auf dem Hof das Geräusch
der abfahrenden Wagen.

Dann noch einmal durch den Wirrwarr
hindurch eine schluchzende Stimme, Otti's
Stimme.

Nun schluchzte auch er. Und presstc
sich die Hände auf die Ohren, um nichts
mehr zu hören. Auch das zaghafte Klopfen
an der Thür nicht und das scheue Flehen.

„Oh Winand! Wenn Du uns doch
sagen möchtest, was ... Er ist doch aus
Amerika gekommen, nur um sich mit Dir
zu versöhnen! Und nun bist Du . . und
wir wissen nicht, womit wir Dich . . warum
Du . . ."

Wie aus weiter, nebeliger Ferne drang's
zu ihm herein. Er antwortete nicht und er
öffnete nicht.

Nur allein sein, allein! Ueberlegen!

Draussen wurde es still, und Herr von
Rocholl auf Rochollshof, Templin und Ama-
lienruh war allein.

Nicht allein. Jene beiden Stimmen waren
bei ihm.

Nun ist er wieder da! Und alles ist W. Kossak. Gefangennahme des G

verloren, verloren! . .

Weisst Du, dass ich dann niemals, niemals wieder —? . . . „Natürlich! Vom Sect! — Steig' auf, Mädel! Doctor, machen Sie

Und sie hämmerten auf ihn ein und zerrten an ihm, bis er es nicht ihr Platz!"

länger zu ertragen vermochte. Mia trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

Wie ein Dieb schlich er hinaus, durch den leeren Corridor, über den „Nein, nein! — Nicht vom Sect, Leo! Ich glaub's nicht. Er lachte

einsamen Hof, ins Freie. so seltsam ..."

Vielleicht, dass sie ihn dort verliessen? „Warum sollte er weinen? Er wird noch mehr lachen, nachher, wenn

er erfährt—ja so, das Ehrenwort! Willst Du nun einsteigen oder nicht?"
„Ich . . Könnte der Herr Doctor nicht kutschiren und ich hinten

Dr. Hans Seegebusch sass im Fonds und Leo kutschirte. Mitten in mit Dir . . ?"

der dichten Staubwolke, die den dahinsausenden Wagen einhüllte, hielt „Unmöglich! Der Doctor hat bereits seine weissen Glacehandschuhe an

sie den Braunen plötzlich an. und ausserdem — in meinem Leben gebe ich kein Ehrenwort wieder! Steig'

„Mia, Du?" rief sie erstaunt. „Was giebfs?" auf, oder — mein Ehrenwort! — ich breche es, jetzt, hier, auf der Stelle!"

Mia sprang athemlos von dem Fusspfade neben dem breiten Land- Mia gehorchte endlich und setzte sich zaghaft zu dem Phildoctor in

wege auf diesen hinüber. den Fonds. Und so sassen sie neben einander, er ganz links und sie

„Onkel schickt mich Dir entgegen! Du sollst mit dem Herrn Doctor ganz rechts, und des Doctors dicker Winterhavelock mit dem Otterpelz-

sofort zu ihm in sein Zimmer kommen. Und ich soll Euch nicht einen kragen — über einen Sommerüberzieher verfügte er nicht — lag zwischen

Augenblick ..." ihnen, wie einst die Mauer zwischen Pyramus und Thisbe.

„Nun, was sollst Du nicht?" Dann fuhren sie weiter, nur ganz langsam, Schritt für Schritt. Und

„Nichts! Onkel war so merkwürdig! Er sah ganz grau und ver- Leo kicherte fortwährend in sich hinein, und die Sonne brannte sengend

stört aus!" vom Himmel herab und Niemand sprach ein Wort.

MODERNE KUNST

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Wort. Herrgott, wenn ich an Ihrer Stelle
wäre, ich wollte dem Mädel da neben Ihnen
schon sagen, dass ich . . Na, ja! ja! ja! Ihr
habt mir den Mund schön zugepflastert mit
Eurem Siegel der Verschwiegenheit. Meinet-
wegen! Thut, was Ihr wollt! Aber das sage
ich Euch, nicht einen Schritt lasse ich den
Braunen von der Stelle gehen, bis es klipp
und klar ist! Ich habe Zeit!"

Sie steckte die Peitsche in das Futteral
und setzte sich breitspurig zurecht. Der
Doctor wurde roth und sah Mia schüchtern
von der Seite an. Und auch Mia wurde
roth und wusste nicht, wohin sie blicken
sollte.

„Oh Leo", stammelte sie, „Onkel er-
wartet uns doch!"
Leo zuckte auf.

„Papa! Gut, dass Du mich an ihn er-
innerst! — Wissen Sie, Doctor", fuhr sie
mit einem verschmitzten Lächeln fort, „was
Papa glaubt? Er glaubt, dass wir, Sie und
ich, in einander bis über die Ohren ver-
schossen sind. Sind wir das?"

Hans Seegebusch hüstelte verlegen.
„Aber Fräulein Leo!"
„Ja oder nein?"
„N—nein!"

Leo nickte triumphirend.
„Hörst Du's, Mia? Nein hat er gestottert!
— Wie aber nun, werden Sie sich nachher
von Papa kaltlächelnd mit mir verloben
lassen? Denn das will Papa. Was werden
Sie dann sagen?"

Hans Seegebusch sah Mia ein wenig
kühner von der Seite an und rückte ihr
ein wenig näher.

„Dann werde ich ihm sagen ..." sagte
er; weiter nichts. Denn Mia hatte sich noch
ängstlicher in ihre Ecke gedrückt.

Leo sah Beide eine Sekunde lang gross
an. Dann riss sie jählings die Peitsche aus
dem Futteral und hieb dem Braunen eines
über, dass er einen entsetzten Satz nach
vorn machte. Die Beiden hinten im Fonds
syzkicwicz während des Rückzuges von Moskau. aDer fuhren mit den Köpfen gegeneinander,

und Doctor Hans Seegebusch wurde mit

Bis Leo ärgerlich wurde. Sie hielt das Pferd an, schauerte ostentativ einem Male ganz kühn,
in sich zusammen und klapperte noch ostentativer mit den Zähnen. „Mia!" sagte er leise und hielt ihre zitternde Gestalt fest. „Fräulein

„Ich weiss nicht", hüstelte sie, „mir ist mit einem Male so . . ich Mia, darf ich . .?"
glaube, es zieht! Möchten Sie mir nicht Ihren Havelock ein wenig Mia brach in Schluchzen aus, aber sie rutschte nicht wieder in ihre Ecke,

borgen, Doctor?" ^ Leo,„

Mia und Hans Seegebusch schauten ihr verwundert in das ihnen zu- „Unsinn!" lachte diese und hielt gerade vor dem Thorbogen den

geneigte, ungeheuer ernste und ungeheuer erhitzte Gesicht. Leo aber Braunen zum vierten Male an. „Oh, Hans! heissfs. Natürlich dürfen Sie,

wartete die Antwort nicht ab, sondern ergriff den Havelock und zog ihn Doctor! Ich seh's nicht!"

an. Und den schweren Otterpelzkragen schlug sie in die Höhe. Dann, nachdem ein gewisses Geräusch — die Liebeserklärung des

„So! Ihr könnt' nun schwatzen, was Ihr wollt! Ich höre keinen Ton! — Phildoctors — an ihr Ohr gedrungen, sank sie wie erschöpft auf den

Immer langsam voran, Brauner!" Kutschbock zurück.

Doch sie schwatzten nicht; sie waren furchtbar verlegen. Der Doctor »Uff! Das hat schwer ge _"

starrte steif auf das Rübenfeld links und Mia auf den Stoppelacker rechts. Sie vollendete nicht. Wie aus dem Pflaster des Thorwegs gewachsen

Als das steinerne Hofthor von Rochollshof in Sicht kam, hielt Leo stand die Gestalt des Herrn von Rocholl neben dem Wagen,
zum dritten Male an, zog den Havelock aus und warf ihn unmuthig über „Leo!" rief er. „Nein, Mia! . . Doctor! Was . .?"

den Kutschbock. -r^eo war mjt e;nem lustigen Gelächter bereits vom Wagen gesprungen.

„Wissen Sie, Doctor, was Sie sind?" fuhr sie plötzlich herum. „Ein „Ja, Mia! Du wunderst Dich, Papa? Mein Gott, damals in der Teufels-
Ekel sind Sie! Glauben Sie, dass es ein besonderer Genuss für mich ist, höhle war's ein Irrthum, während heute — heute ist's Wahrheit. Denn
mich bei vierundzwanzig Grad im Schatten wie in einem Kochtopf schmoren Doctor Hans Seegebusch und Mia Lehnhardt haben sich eben verlobt,
zulassen? Ja, wenn noch was dabei herauskäme! Aber Sie reden ja kein Steig' aus, Mia und fall' Deinem Onkel um den Hals!"
 
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