Literatur
93
Kunst und Künstler in Frankfurt a. M.
im 19. Jahrhundert. Herausgegeben auf Ver-
anlassung des Frankfurter Kunstvereins. Erster
Band. Das Frankfurter Kunstleben im 19. Jahr-
hundert in seinen grundlegenden Zügen ge-
schildert von Heinrich Weizsäcker. Frankfurt a.M.,
J. Baer u. Co., Carl Jugel, H. Keller, F. A. C.
Prestel, M. Abendroth. 1907.
Auf der Jahrhundertausstellung 1906 wurde
die Bedeutung Frankfurts als Kunststadt er-
kannt; freilich noch nicht in vollem Umfange:
dieses Buch erst erlaubt eine wohlgeordnete
Übersicht über den Anteil, der Frankfurter
Künstlern an der deutschen Malerei (nur um
diese handelt es sich) gebührt. Es ist eine er-
staunliche Anzahl von bedeutsamen Namen für
den, der Frankfurt nicht kennt; nicht nur Lokal-
größen, sondern auch Männer, die an der Ent-
wicklung unserer Kunst im vorigen Jahrhundert
in erster Linie mitgeschaffen haben, deren
Aufenthalt in Frankfurt mehr oder weniger
bestimmend für sie selbst war, oder deren
Wirken d >rt weitreichende Bedeutung gewann.
Es sind vier Gruppen unter ihnen zu scheiden,
die nicht nur die Zeit, sondern auch ihre Rich-
tung trennt. Für die Romantiker aus der ersten
Hälfte des Jahrhunderts war Frankfurt eine der
angesehensten Stätten, lange Zeit hindurch*
Cornelius wirkte hier (kürzlich gefundene Wand-
malereien werden publiziert); Pforr, Veit, Rethel,
Steinle gaben neben- und nacheinander den
Ton an, Schwind schuf hier von 1844—47 einige
seiner schönsten Werke. Die Zweiten sind die
Landschafter von eigentümlich deutschem resp.
Frankfurter Charakter; nach Vorläufern wie
Becker, die Cronberger; Dielmann, Burger, Bur-
nitz (er und auch L. Eysen werden wohl besser
zu dieser als zur nächsten Gruppe gerechnet,
wie Weizsäcker es tut). Dann die heroische
Zeit der großen Individualitäten, die in Paris
malen lernten und nach einem Monumental-
stile strebten; von ihnen sind in Frankfurt
Viktor Müller und Scholderer die größten;
Schreyer und Hausmann gehören in die Nähe,
Thoma und Trübner aber sicherlich in diesen
Zusammenhang, wenn sie auch noch leben.
Die Letzten, die Gegenwärtigen, streben nach
anderen Zielen: Pidoll und Boehle sind ihre
markantesten Vertreter; neben ihnen Altheim
und Roederstein und die impressionistisch ge-
schulten Landschafter um Nußbaum.
Das Buch, das diesen und einer Menge an-
derer Künstler und Nichtkünstler gewidmet ist
(und nebenbei einige Jüngere zu nennen ver-
gißt, die es wert gewesen wären), repräsentiert
sich dem ersten Blick stattlich und geschmack-
voll. Einband, Buchschmuck, Drudetype von
Künstlern; gutes englisches Papier; Lichtdruck-
tafeln und keine in den Text gestreuten Illu-
strationen. Man kann diesen modernen Geist
nicht genug rühmen; und über einige typo-
graphische Schnitzer leicht hinweggehn, die bei
dem ungeübten deutschen Geschmack nun ein-
mal unvermeidlich scheinen.
Viel schwerer wiegen Bedenken inhaltlicher
Art, die an einem so vornehmen Buche äußerst
auffallend sind. Weizsäcker hat sich der Auf-
gabe, die Kunstgeschichte einer einzelnen Stadt
im 19. Jahrhundert zu schreiben, mit Verständ-
nis entledigt; nicht bloß sind seine stilgeschicht-
lichen Erörterungen gut und erweitern unsere
Vorstellungen von deutscher Kunst bedeutend;
sondern auch die Biographien und Analysen
der einzelnen Künstler sind bis zu Trübner und
Boehle vortrefflich und voll jener Sachlichkeit,
die es in zweifelhaften Fällen vorzieht, trocken
und zurückhaltend zu erscheinen, als in dichte-
rischem Schwung zu glänzen. Mit dieser er-
quicklichen Art der Kritik erscheinen aber ein-
zelne Partien unvereinbar; und zwar ist das
der vorletzte Abschnitt (über neueste Archi-
tektur und Plastik) und der letzte, über die
gegenwärtige Malerei, bis dahin, wo mit Thoma
die unangefochtenen großen Persönlichkeiten
beginnen. In den bedenklichen Teilen erscheint
eine Menge von Namen, die für die Kunst ab-
solut bedeutungslos sind, in wirrem Durch-
einander mit wenigen Künstlern; so daß etwa
Ottilie Roederstein oder Nußbaum mit den ob-
skursten Stadtgrößen in einem Atem, als
gleichen Ranges genannt werden; daß von den
Stilimitatoren in der Baukunst mit um so
größerem Enthusiasmus gesprochen wird, je
mehr man sich der Gegenwart nähert und je
unfähiger sie werden, und daß von den rühm-
lichen Werken einer wahrhaften Architektur,
die in den letzten Jahren auch in Frankfurt
entstanden sind, von Eberhardt, Bernoully,
Paravicini usf. überhaupt nicht die Rede ist,
es sei denn mit ignoranten Seitenblicken auf
die „sogenannte reine Linie". Ein solches Ver-
fahren ist aufs schärfste anzugreifen, es ist
schlechthin unwürdig inmitten einer ernsthaften
kunstgeschichtlichen Darstellung, wie sie das
Buch im übrigen darstellt. Es gibt nur zwei
Möglichkeiten, diesen „Fall" zu erklären. Ent-
weder hat der Verfasser es nicht besser ge-
konnt, er besaß nicht einen Funken kritischen
Vermögens gegenüber einer noch nicht amtlich
beglaubigten Kunst der Gegenwart; oder er
schrieb wie ein Lokalreporter, der den zahl-
reichen Honoratioren des Frankfurter Kunst-
vereins und Architektenvereins mit Kulanz
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Kunst und Künstler in Frankfurt a. M.
im 19. Jahrhundert. Herausgegeben auf Ver-
anlassung des Frankfurter Kunstvereins. Erster
Band. Das Frankfurter Kunstleben im 19. Jahr-
hundert in seinen grundlegenden Zügen ge-
schildert von Heinrich Weizsäcker. Frankfurt a.M.,
J. Baer u. Co., Carl Jugel, H. Keller, F. A. C.
Prestel, M. Abendroth. 1907.
Auf der Jahrhundertausstellung 1906 wurde
die Bedeutung Frankfurts als Kunststadt er-
kannt; freilich noch nicht in vollem Umfange:
dieses Buch erst erlaubt eine wohlgeordnete
Übersicht über den Anteil, der Frankfurter
Künstlern an der deutschen Malerei (nur um
diese handelt es sich) gebührt. Es ist eine er-
staunliche Anzahl von bedeutsamen Namen für
den, der Frankfurt nicht kennt; nicht nur Lokal-
größen, sondern auch Männer, die an der Ent-
wicklung unserer Kunst im vorigen Jahrhundert
in erster Linie mitgeschaffen haben, deren
Aufenthalt in Frankfurt mehr oder weniger
bestimmend für sie selbst war, oder deren
Wirken d >rt weitreichende Bedeutung gewann.
Es sind vier Gruppen unter ihnen zu scheiden,
die nicht nur die Zeit, sondern auch ihre Rich-
tung trennt. Für die Romantiker aus der ersten
Hälfte des Jahrhunderts war Frankfurt eine der
angesehensten Stätten, lange Zeit hindurch*
Cornelius wirkte hier (kürzlich gefundene Wand-
malereien werden publiziert); Pforr, Veit, Rethel,
Steinle gaben neben- und nacheinander den
Ton an, Schwind schuf hier von 1844—47 einige
seiner schönsten Werke. Die Zweiten sind die
Landschafter von eigentümlich deutschem resp.
Frankfurter Charakter; nach Vorläufern wie
Becker, die Cronberger; Dielmann, Burger, Bur-
nitz (er und auch L. Eysen werden wohl besser
zu dieser als zur nächsten Gruppe gerechnet,
wie Weizsäcker es tut). Dann die heroische
Zeit der großen Individualitäten, die in Paris
malen lernten und nach einem Monumental-
stile strebten; von ihnen sind in Frankfurt
Viktor Müller und Scholderer die größten;
Schreyer und Hausmann gehören in die Nähe,
Thoma und Trübner aber sicherlich in diesen
Zusammenhang, wenn sie auch noch leben.
Die Letzten, die Gegenwärtigen, streben nach
anderen Zielen: Pidoll und Boehle sind ihre
markantesten Vertreter; neben ihnen Altheim
und Roederstein und die impressionistisch ge-
schulten Landschafter um Nußbaum.
Das Buch, das diesen und einer Menge an-
derer Künstler und Nichtkünstler gewidmet ist
(und nebenbei einige Jüngere zu nennen ver-
gißt, die es wert gewesen wären), repräsentiert
sich dem ersten Blick stattlich und geschmack-
voll. Einband, Buchschmuck, Drudetype von
Künstlern; gutes englisches Papier; Lichtdruck-
tafeln und keine in den Text gestreuten Illu-
strationen. Man kann diesen modernen Geist
nicht genug rühmen; und über einige typo-
graphische Schnitzer leicht hinweggehn, die bei
dem ungeübten deutschen Geschmack nun ein-
mal unvermeidlich scheinen.
Viel schwerer wiegen Bedenken inhaltlicher
Art, die an einem so vornehmen Buche äußerst
auffallend sind. Weizsäcker hat sich der Auf-
gabe, die Kunstgeschichte einer einzelnen Stadt
im 19. Jahrhundert zu schreiben, mit Verständ-
nis entledigt; nicht bloß sind seine stilgeschicht-
lichen Erörterungen gut und erweitern unsere
Vorstellungen von deutscher Kunst bedeutend;
sondern auch die Biographien und Analysen
der einzelnen Künstler sind bis zu Trübner und
Boehle vortrefflich und voll jener Sachlichkeit,
die es in zweifelhaften Fällen vorzieht, trocken
und zurückhaltend zu erscheinen, als in dichte-
rischem Schwung zu glänzen. Mit dieser er-
quicklichen Art der Kritik erscheinen aber ein-
zelne Partien unvereinbar; und zwar ist das
der vorletzte Abschnitt (über neueste Archi-
tektur und Plastik) und der letzte, über die
gegenwärtige Malerei, bis dahin, wo mit Thoma
die unangefochtenen großen Persönlichkeiten
beginnen. In den bedenklichen Teilen erscheint
eine Menge von Namen, die für die Kunst ab-
solut bedeutungslos sind, in wirrem Durch-
einander mit wenigen Künstlern; so daß etwa
Ottilie Roederstein oder Nußbaum mit den ob-
skursten Stadtgrößen in einem Atem, als
gleichen Ranges genannt werden; daß von den
Stilimitatoren in der Baukunst mit um so
größerem Enthusiasmus gesprochen wird, je
mehr man sich der Gegenwart nähert und je
unfähiger sie werden, und daß von den rühm-
lichen Werken einer wahrhaften Architektur,
die in den letzten Jahren auch in Frankfurt
entstanden sind, von Eberhardt, Bernoully,
Paravicini usf. überhaupt nicht die Rede ist,
es sei denn mit ignoranten Seitenblicken auf
die „sogenannte reine Linie". Ein solches Ver-
fahren ist aufs schärfste anzugreifen, es ist
schlechthin unwürdig inmitten einer ernsthaften
kunstgeschichtlichen Darstellung, wie sie das
Buch im übrigen darstellt. Es gibt nur zwei
Möglichkeiten, diesen „Fall" zu erklären. Ent-
weder hat der Verfasser es nicht besser ge-
konnt, er besaß nicht einen Funken kritischen
Vermögens gegenüber einer noch nicht amtlich
beglaubigten Kunst der Gegenwart; oder er
schrieb wie ein Lokalreporter, der den zahl-
reichen Honoratioren des Frankfurter Kunst-
vereins und Architektenvereins mit Kulanz