Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Monatshefte für Kunstwissenschaft — 9.1916

DOI article:
Schmidt, Paul Ferdinand: Jakob A. Carstens
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.69938#0213

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
verstehen will. Geschmeidige Fürstendiener und elegante Techniker der Öl- und
Freskenmalerei gab es genug und übergenug in Deutschland. Daß die Kunst bei
aller Steigerung ihrer Mittel armselig und nicht der Rede wert bleiben könnte, be-
weisen gerade sie; beweist das lebhafte Gefühl bei den Pseudoklassizisten, etwas
Besseres an ihre Stelle setzen zu müssen. Und hier ist der Punkt, wo die von
materialistisch Gesinnten so oft bespöttelte Forderung des Sittlichen in der Kunst
sich jedem aufdrängen muß. Der Lüge des Pseudoklassizismus mußte mit andern
Waffen begegnet werden: mit dem Willen zur unbedingten Wahrheit und mit der
Überzeugung von den einmal ergriffenen Idealen, die nur mit dem Tode geendigt
werden konnte. Ein solches Ideal in sich zu bilden und sich zum Manne reif
werden zu lassen, der ohne Schranken es gegen Armut, Neid, Verleumdung, Krank-
heit und Hoffnungslosigkeit durchsetzte und mit seinem Ende besiegelte: dazu
dienten die schweren Jahre bei Bruyn. Als Carstens nach Kopenhagen kam, wußte
er, was er wollte. Und seine Abneigung gegen die Akademie, deren Zeichensäle
er mied, sein etwas donquixotenhafter Kampf gegen sie aus Anlaß eines miß-
verstandenen Preisgerichts, Abildgaards Verhalten ihm gegenüber muten an wie
ein Symbol des unüberbrückbaren Zwiespalts zwischen ihm und der offiziellen
Welt. Denn in Wahrheit wollte man ihm an der durchaus nicht reaktionären
Akademie ebenso wohl wie später an der Berliner, und seine Feindschaft beruhte
mehr auf Instinkt als auf Tatsachen1).
Seine einsame Selbstbildung erhielt in Kopenhagen die von ihm erhoffte Nahrung.
Er sah sich die Abgüsse nach den Antiken tage- und wochenlang an, ohne zu
zeichnen. Erst wenn er ihre Formen gründlich und für immer seinem Gedächtnis
ein verleibt hatte, zeichnete er sie zu Hause aus dem Kopf, in allen Stellungen;
ging wieder hin, verglich und besserte, und gelangte so in unausgesetzter jahre-
langer Arbeit zu der Fähigkeit, den menschlichen Körper von idealer Bildung voll-
kommen zu beherrschen2). Daneben gingen von Anfang an Kompositionsversuche,
selbstverständlich auch aus dem Kopf; mit zwei Figuren beginnend, wie ein Schüler
mit leichtem Pensum, vervollkommnete er sich langsam, so daß er schließlich, als
er nach Rom ging, bereit war, eine im Kopfe ausgereifte Komposition in wenigen
Tagen oder gar Stunden herunterzuzeichnen, wie ein Dichter sein wohlerwogenes
Gedicht in einem Zuge nur seinem Gedächtnis nachzuschreiben braucht3).
Ohne dem späteren Eingehen auf seinen Stil vorzugreifen, sei hier nur angemerkt:
daß sein unbeirrtes Losgehen auf die Erwerbung der Kenntnis menschlicher Körper
ebenso wohl auf seine plastische Grundbegabung weist wie von seiner tiefwurzelnden
(1) Über den sonderbaren, sehr verzwickten Irrtum, der sich unbewußt in Carstens Erinnerung über
dieses Preisgericht eingeschlichen hatte, vgl. die Darstellung bei Fernow - Riegel S. 63!. mit Sach
S. 178fr. Die Kopenhagener Akademie mußte Carstens notgedrungen wegen seiner ungerechtfertigten
und brüsken Verweigerung der Medaille ausschließen; aber sie ermunterte ihn ein Jahr später, sich
um eine höhere Medaille zu bewerben. Carstens wies diese Hilfe zurück. Ebensowenig ist von einer
Feindschaft der Berliner Akademie die Rede; urkundlich ist festgelegt, daß ihm alle Mitglieder wohl-
wollten und er sich ihre Feindschaft nur eingebildet hat. Schöne, Beiträge S. 4f.
(2) Der Wert der Carstensschen Methode, die menschliche Figur als solche aus den Antiken kennen
zu lernen, ergibt sich von selbst bei einem Vergleich mit den üblichen Methoden des mechanischen
Kopierens und Messens und der Wiederverwertung der Kopien in Kompositionen. Vgl. z. B. W. Tischbein,
Lebenserinnerungen I, S. 187 fr. (bei Trippei).
(3) Die alte Routine mit ihren Krücken in Gestalt von „Komponierkästen“ stieß zum ersten Mal im
Juli 1792 in Florenz mit der bisher unbekannten Art künstlerischer Zeugung zusammen, als Carstens
vor den Augen eines darob verblüfften deutschen Malers aus dem Nichts seine Lapithenschlacht er-
stehen ließ. Fernow-Riegel S. 99.

aoi
 
Annotationen