SS
Münchner kunsttechnischc Blätter
Kr, iy
Der Grünewald- Altar und die Kopisten ).
i.
Die oft geäusserte, neuerdings vom „Kunstwart12
mit Nachdruck vertretene Forderung, man solle die Ge-
legenheit wahrnehmen, den Isenheimer Altar, der ja
leider in absehbarer Zeit Deutschland verlassen muss,
uns wenigstens in Kopien zu erhalten, kann aus Er-
wägungen, die hier öffentlich mitgeteilt werden mögen,
nicht unwidersprochen bleiben.
Ganz allgemein gilt unserem heutigen Empfinden
die Kopie als Surrogat eines Originals, als welches sie
im vorliegenden Fall einzig in Betracht käme, so wenig
als denkbar. Vor hundert Jahren, sogar noch zur Zeit
des Grafen Schack, dachte man anders. Solange die
mechanischen Reproduktionsverfahren noch nicht oder
erst in primitiver Ausbildung zu Gebote standen und
zudem die schwierigen Reisemöglichkeiten die Begriffe
von lokaler Trennung ungemein verschärften, fiel aller-
dings dm Kopie in erster Linie die Aufgabe zu, einen
vollwertigen Begriff des Originals am fernen Ort zu
vermitteln, und sie wurde dieser Aufgabe um so eher
gerecht, als damals das Auge für die feinere Unter-
scheidung der persönlichen Stilform ungleich weniger
geschärft war als heute. Die ausserordentliche Ver-
tiefung der Kunstkennerschaft in den letzten fünf
Jahrzehnten hat in dieser Hinsicht völlig veränderte
Voraussetzungen geschaffen: Mochte man ehedem im
Besitz einer treuen Kopie das Original leicht ver-
schmerzen, so scheint uns heute die Handschrift des
Künstlers durch keinerlei Nachbildung auch nur ent-
fernt ersetzbar. Ein originales Bildwerk des Mittel-
alters von nur mittlerer Güte spricht uns ungleich
stärker an, als Abgüsse der berühmtesten Figuren von
Naumburg, Bamberg oder Strassburg, und der beschei-
denste Zeuge aus der Zeit des Phidias ist uns künst-
lerisch lebendiger als alle Antiken eines Gipsmuseums.
Diese zugestandenermassen einseitige Wertung ist, wie
gesagt, noch nicht alt. Noch in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts sah man sich in Berlin der Frage gegen-
übergestellt, für eine bestimmte verfügbare Summe
entweder eine der grössten englischen Privatsamm-
lungen mittelalterlicher Miniaturen und Handzeich-
nungen oder Abgüsse der Rossebändiger des Quirinais
zu erwerben: man entschied sich für die Abgüsse.
Das gewaltig gesteigerte Interesse für alte Kunst,
die erweiterte Kenntnis und die Verwöhnung des Auges
durch verblüffende mechanische Reproduktionen er-
möglicht uns heute kaum mehr, in einer Kopie das
übermittelte Original ernstlich zu würdigen: vielmehr
scheint sie uns erst dann anziehend und wertvoll, wenn
sie, wie bei Delacroix, Feuerbach, Maröes, dank dem
persönlichen Temperament des Kopisten eigenwillig
vom Original abweicht und gleichsam ein neues Urbild
erschafft. Das blosse Konterfei aber, und sei es die
vollkommenste Wiedergabe der gewaltigsten Bilder äl-
terer Kunst, wird als Akt der Geschicklichkeit, nicht
künstlerischen Schaffens empfunden: es vermag uns
ästhetisch kaum zu bereichern und scheint, gerade
wenn es sich täuschender Fälschung nähert, nicht ein-
mal zur Belehrung tauglich. So würden voraussichtlich
auch die Kopien der Grünewald-Tafeln keinem zur
reinen Freude gereichen: ihre Ausstellung in den Mu-
seen für originale Kunst wäre grundsätzlich abzulehnen
und schliesslich müssten sie in irgendeinem Winkel,
etwa bei den Gipsabgüssen des Nationalmuseums, ein
unansehnliches Dasein fristen.
Bei alledem wäre noch nicht einmal in Frage ge-
zogen, ob sie wirklich auch nur als blosse Nachbildung
zulänglich gerieten, ob und wieweit selbst ein Tausend-
*) Wir entnehmen die folgenden Aufsätze, die die
Leser der „Münchner kunsttechnischen Blätter“ inter-
essieren dürften, den „M. N. N.“ vom 7. Febr. 1919.
künstler im Nachmachen sich mit der unerhörten
Mannigfaltigkeit und Verfeinerung abfinden würde, in
der bei Grünewald der technische Ausdruck mit dem
Stofflichen schritthält.
Auf einem anderen Blatt steht nun freilich die
Tatsache, dass gerade die märchenhafte handwerkliche
Vollendung des Werkes, die, aller Routine abhold, in
jedem Augenblick vom zentralen Schöpfergeist in
Spannung gehalten wird, zur Nachbildung in hohem Masse
anreizen muss. Hier erhebt sich aber der praktische
Einwurf, dem sich die verschwindende Minderzahl der
Kopierfreudigen zugunsten der tausendfach herbei-
strömenden Beschauer wird fügen müssen: wäre es
billig, diesen Scharen, die die Minuten ausnützen, um
von dem Wunderwerk dauernde Eindrücke heimzu-
tragen, den ohnehin nicht mehr lange bemessenen
Genuss dadurch zu schmälern, dass man ihnen den
Blick durch riesige Malbretter und die dazu gehörigen
Staffeleien und Kopisten verbaute? Ist es nicht viel-
mehr ein Gebot des Geschmackes und des sozialen
Taktes, dieses einmalige und deshalb so weihevolle
Auftreten Grünewalds unter uns von nüchterner Be-
gleiterscheinung und privaten Ansprüchen freizuhalten?
Die Zeit ist in der Tat kostbar, wenigstens für die
Münchner Oeffentlichkeit. Dagegen wird der Künstler,
dem ernstlich daran liegt, auch später seine Gelegen-
heit finden können, und selbst die öffentliche Kunst-
pflege, die allenfalls zum Schmuck einer Kirche, auf
eine Kopie nicht verzichten wollte, könnte sich ge-
trost noch gedulden, da der Altar ja nicht aus der
Welt verschwinden wird. Glücklich der Kopist, der
sich in dem stillen, weihevollen Raum des Colmar er
Museums nachschaffend in Grünewalds Visionen ver-
tiefen dürfte! Und sollte wirklich — was vorläufig
ohne jeden Anhalt, aber in begreiflichem Groll den
Franzosen angesonnen wird — der Altar als Sieges-
trophäe im Louvre Aufstellung finden, wo er dauernd
für das Deutschtum des Eisass zeugen könnte, so
würde auch dort die Möglichkeit, ihn zu kopieren,
nicht fehlen.
Es mag an dieser Stelle noch eine Anmerkung
über die derzeitige Aufstellung des Werkes Platz fin-
den, da der Fall für den Zwiespalt denkmalpfleglicher
und musealer Interessen typisch ist Am einfachsten
wäre es gewesen, den Mittelschrein zu ergänzen und
den Altar in seiner ursprünglichen Form mit dreh-
baren Flügeln wieder zusammenzufügen. Die daraus
erwachsenden praktischen UnzuträgTichkeiten liegen
jedoch auf der Hand: das dauernde Umwenden wäre
den schweren Holztafeln höchst unzuträglich, vor allem
aber würden die Bilder als Aufsatz einer Mensa, und
durch die Predella noch weiter emporgehoben, reich-
lich zwei Meter über dem Boden, also viel höher an-
gebracht werden müssen, als es im Interesse ihrer
eingehenden Betrachtung wünschbar sein kann. Wäre
wohl überhaupt die Erhaltung des Altars an seiner
ursprünglichen Stelle die ideale Form seines Fortbe-
stehens ? Würden wir seiner allgemeinen Wirkung im
Kirchenraum zuliebe, in der viel geringere Werke bei-
nahe Ebenbürtiges darstellen könnten, auf den Genuss
der unerschöpflichen Fülle malerischer Schönheiten
verzichten wollen, die sich nur dem nahe Hinzutreten-
den erschliesst? Wir verneinen und sind uns dabei
unserer bettlerhaften Stellung gegenüber den Alten
voll bewusst. Aengstlich sammeln und hegen wir als
höchstes Gut, womit jene gelassen ihr Leben schmück-
ten, und mit allen Mitteln wissenschaftlicher, literari-
scher und typographischer Propaganda wird geräusch-
voll ausgeschrieen, was ehedem, von persönlichem
Ehrgeiz unbekümmert, einer naiven Menge viel mehr
zur geistlichen Erbauung als zum eigentlichen Kunst-
genuss vor Augen gestellt war, wie eben Brauch und
Öertlichkeit es erlaubten.
Münchner kunsttechnischc Blätter
Kr, iy
Der Grünewald- Altar und die Kopisten ).
i.
Die oft geäusserte, neuerdings vom „Kunstwart12
mit Nachdruck vertretene Forderung, man solle die Ge-
legenheit wahrnehmen, den Isenheimer Altar, der ja
leider in absehbarer Zeit Deutschland verlassen muss,
uns wenigstens in Kopien zu erhalten, kann aus Er-
wägungen, die hier öffentlich mitgeteilt werden mögen,
nicht unwidersprochen bleiben.
Ganz allgemein gilt unserem heutigen Empfinden
die Kopie als Surrogat eines Originals, als welches sie
im vorliegenden Fall einzig in Betracht käme, so wenig
als denkbar. Vor hundert Jahren, sogar noch zur Zeit
des Grafen Schack, dachte man anders. Solange die
mechanischen Reproduktionsverfahren noch nicht oder
erst in primitiver Ausbildung zu Gebote standen und
zudem die schwierigen Reisemöglichkeiten die Begriffe
von lokaler Trennung ungemein verschärften, fiel aller-
dings dm Kopie in erster Linie die Aufgabe zu, einen
vollwertigen Begriff des Originals am fernen Ort zu
vermitteln, und sie wurde dieser Aufgabe um so eher
gerecht, als damals das Auge für die feinere Unter-
scheidung der persönlichen Stilform ungleich weniger
geschärft war als heute. Die ausserordentliche Ver-
tiefung der Kunstkennerschaft in den letzten fünf
Jahrzehnten hat in dieser Hinsicht völlig veränderte
Voraussetzungen geschaffen: Mochte man ehedem im
Besitz einer treuen Kopie das Original leicht ver-
schmerzen, so scheint uns heute die Handschrift des
Künstlers durch keinerlei Nachbildung auch nur ent-
fernt ersetzbar. Ein originales Bildwerk des Mittel-
alters von nur mittlerer Güte spricht uns ungleich
stärker an, als Abgüsse der berühmtesten Figuren von
Naumburg, Bamberg oder Strassburg, und der beschei-
denste Zeuge aus der Zeit des Phidias ist uns künst-
lerisch lebendiger als alle Antiken eines Gipsmuseums.
Diese zugestandenermassen einseitige Wertung ist, wie
gesagt, noch nicht alt. Noch in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts sah man sich in Berlin der Frage gegen-
übergestellt, für eine bestimmte verfügbare Summe
entweder eine der grössten englischen Privatsamm-
lungen mittelalterlicher Miniaturen und Handzeich-
nungen oder Abgüsse der Rossebändiger des Quirinais
zu erwerben: man entschied sich für die Abgüsse.
Das gewaltig gesteigerte Interesse für alte Kunst,
die erweiterte Kenntnis und die Verwöhnung des Auges
durch verblüffende mechanische Reproduktionen er-
möglicht uns heute kaum mehr, in einer Kopie das
übermittelte Original ernstlich zu würdigen: vielmehr
scheint sie uns erst dann anziehend und wertvoll, wenn
sie, wie bei Delacroix, Feuerbach, Maröes, dank dem
persönlichen Temperament des Kopisten eigenwillig
vom Original abweicht und gleichsam ein neues Urbild
erschafft. Das blosse Konterfei aber, und sei es die
vollkommenste Wiedergabe der gewaltigsten Bilder äl-
terer Kunst, wird als Akt der Geschicklichkeit, nicht
künstlerischen Schaffens empfunden: es vermag uns
ästhetisch kaum zu bereichern und scheint, gerade
wenn es sich täuschender Fälschung nähert, nicht ein-
mal zur Belehrung tauglich. So würden voraussichtlich
auch die Kopien der Grünewald-Tafeln keinem zur
reinen Freude gereichen: ihre Ausstellung in den Mu-
seen für originale Kunst wäre grundsätzlich abzulehnen
und schliesslich müssten sie in irgendeinem Winkel,
etwa bei den Gipsabgüssen des Nationalmuseums, ein
unansehnliches Dasein fristen.
Bei alledem wäre noch nicht einmal in Frage ge-
zogen, ob sie wirklich auch nur als blosse Nachbildung
zulänglich gerieten, ob und wieweit selbst ein Tausend-
*) Wir entnehmen die folgenden Aufsätze, die die
Leser der „Münchner kunsttechnischen Blätter“ inter-
essieren dürften, den „M. N. N.“ vom 7. Febr. 1919.
künstler im Nachmachen sich mit der unerhörten
Mannigfaltigkeit und Verfeinerung abfinden würde, in
der bei Grünewald der technische Ausdruck mit dem
Stofflichen schritthält.
Auf einem anderen Blatt steht nun freilich die
Tatsache, dass gerade die märchenhafte handwerkliche
Vollendung des Werkes, die, aller Routine abhold, in
jedem Augenblick vom zentralen Schöpfergeist in
Spannung gehalten wird, zur Nachbildung in hohem Masse
anreizen muss. Hier erhebt sich aber der praktische
Einwurf, dem sich die verschwindende Minderzahl der
Kopierfreudigen zugunsten der tausendfach herbei-
strömenden Beschauer wird fügen müssen: wäre es
billig, diesen Scharen, die die Minuten ausnützen, um
von dem Wunderwerk dauernde Eindrücke heimzu-
tragen, den ohnehin nicht mehr lange bemessenen
Genuss dadurch zu schmälern, dass man ihnen den
Blick durch riesige Malbretter und die dazu gehörigen
Staffeleien und Kopisten verbaute? Ist es nicht viel-
mehr ein Gebot des Geschmackes und des sozialen
Taktes, dieses einmalige und deshalb so weihevolle
Auftreten Grünewalds unter uns von nüchterner Be-
gleiterscheinung und privaten Ansprüchen freizuhalten?
Die Zeit ist in der Tat kostbar, wenigstens für die
Münchner Oeffentlichkeit. Dagegen wird der Künstler,
dem ernstlich daran liegt, auch später seine Gelegen-
heit finden können, und selbst die öffentliche Kunst-
pflege, die allenfalls zum Schmuck einer Kirche, auf
eine Kopie nicht verzichten wollte, könnte sich ge-
trost noch gedulden, da der Altar ja nicht aus der
Welt verschwinden wird. Glücklich der Kopist, der
sich in dem stillen, weihevollen Raum des Colmar er
Museums nachschaffend in Grünewalds Visionen ver-
tiefen dürfte! Und sollte wirklich — was vorläufig
ohne jeden Anhalt, aber in begreiflichem Groll den
Franzosen angesonnen wird — der Altar als Sieges-
trophäe im Louvre Aufstellung finden, wo er dauernd
für das Deutschtum des Eisass zeugen könnte, so
würde auch dort die Möglichkeit, ihn zu kopieren,
nicht fehlen.
Es mag an dieser Stelle noch eine Anmerkung
über die derzeitige Aufstellung des Werkes Platz fin-
den, da der Fall für den Zwiespalt denkmalpfleglicher
und musealer Interessen typisch ist Am einfachsten
wäre es gewesen, den Mittelschrein zu ergänzen und
den Altar in seiner ursprünglichen Form mit dreh-
baren Flügeln wieder zusammenzufügen. Die daraus
erwachsenden praktischen UnzuträgTichkeiten liegen
jedoch auf der Hand: das dauernde Umwenden wäre
den schweren Holztafeln höchst unzuträglich, vor allem
aber würden die Bilder als Aufsatz einer Mensa, und
durch die Predella noch weiter emporgehoben, reich-
lich zwei Meter über dem Boden, also viel höher an-
gebracht werden müssen, als es im Interesse ihrer
eingehenden Betrachtung wünschbar sein kann. Wäre
wohl überhaupt die Erhaltung des Altars an seiner
ursprünglichen Stelle die ideale Form seines Fortbe-
stehens ? Würden wir seiner allgemeinen Wirkung im
Kirchenraum zuliebe, in der viel geringere Werke bei-
nahe Ebenbürtiges darstellen könnten, auf den Genuss
der unerschöpflichen Fülle malerischer Schönheiten
verzichten wollen, die sich nur dem nahe Hinzutreten-
den erschliesst? Wir verneinen und sind uns dabei
unserer bettlerhaften Stellung gegenüber den Alten
voll bewusst. Aengstlich sammeln und hegen wir als
höchstes Gut, womit jene gelassen ihr Leben schmück-
ten, und mit allen Mitteln wissenschaftlicher, literari-
scher und typographischer Propaganda wird geräusch-
voll ausgeschrieen, was ehedem, von persönlichem
Ehrgeiz unbekümmert, einer naiven Menge viel mehr
zur geistlichen Erbauung als zum eigentlichen Kunst-
genuss vor Augen gestellt war, wie eben Brauch und
Öertlichkeit es erlaubten.