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Frimmel, Theodor von [Hrsg.]
Neue Blätter für Gemäldekunde — Wien, 1.1922-1923

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Ankwicz-Kleehoven, Hans: Theagenes und Chariklea
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https://doi.org/10.11588/diglit.20642#0112

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und vor der Mündung, die man die Herakleotische nennt, sich verbreitet. Sie
sahen aufmerksam hinab, stunden einige Zeit stille und durchliefen mit ihren
Blicken die offene See, die vor ihnen lag. Da sie nichts auf derselben ent-
deckten, das ihnen Hoffnung zu einiger Beute machte, so wandten sie die Augen
nach dem nächsten Ufer, und da erschien ihnen, was folget.

Ein Schiff, das ganz unbemannet, aber schwer beladen schien, war mit
Tauen an das Ufer befestiget. Die Schwere seiner Ladung lieft sich auch von
ferne mutmaßen, denn sie drückte den Bord bis an den dritten Reif unter das
Wasser. Das Ufer war mit einer Menge tödlich verwundeter Menschen bedeckt,
von denen schon einige den Geist aufgegeben hatten, aber andere noch einen
Rest von Leben in der zuckenden Bewegung einiger Glieder zeigten und da-
durch entdeckten, dag nur kurz vorher ein Kampf hier gewesen sein müfjte.
Doch verrieten alle Umstände mehr einen Mord als einen Kampf. Man sah
überall die jämmerlichen Reste eines Gastmahls, das in einer unglücklichen
Stunde gefeiert worden war; verschiedene Tische, die noch mit Speisen bedeckt
stunden, andere, die umgestürzt auf der Erde lagen . . . Hin und her lagen
umgeworfene Becher; einige waren noch in den Händen derer, die daraus
trinken oder wohl statt der Steine sie auf die Mörder hatten werfen wollen . . .
Auf der Spike eines Felsens sag ein Frauenzimmer von wunderbarer Schönheit,
die jeder, der sie sah, für eine Göttin halten mufcte. Sie schien äußerst betrübt
über die Gegenstände, die sie umringten, aber noch voll von einem Edelmute,
der dem Unglück nicht unterlag. Ihre Stirn war mit einem Lorbeerkranze um-
wunden, von ihren Schultern hing ein Köcher, ihr linker Arm war auf den Bogen
gestützt, und die Hand hing nachlässig hinab. Den Ellbogen des andern Armes
stüfete sie auf die Hüfte und umfafjte sich mit den Fingern die Wangen, mit
niedergeschlagenen Augen, die auf einen Jüngling, der vor ihr lag, unbeweglich
geheftet waren. Er war durch seine Wunden verstellet und schien eben wie aus
einem tiefen Schlaf, fast dem Schlafe des Todes, zu erwachen.'*

Auf dem Bilde des unbekannten holländischen Meisters, das namentlich im
Landschaftlichen mit groker Delikatesse gemalt ist und etwa um 1700 ent-
standen sein dürfte, sehen wir demnach die um ihren scheinbar tötlich ver-
wundeten Theagenes trauernde Chariklea genau in der Situation und mit allen
jenen Attributen, mit denen sie die Phantasie des Dichters im einleitenden
Kapitel des ersten Buches ausgestattet hat. Die Bildhaftigkeit dieser ausführ-
lichen Beschreibung bot offenbar einen starken Anreiz zur Illustrierung, denn
wir begegnen derselben Darstellung nicht nur auf dem ersten Kupfer einer
mit zahlreichen Stichen geschmückten französischen Ausgabe vom Jahre 1626,*)

*) Les Amours de Theagene et Chariclee. Histoire Ethiopigue d'Heliodore.
Traduction nouvelle. Seconde Edition. A Paris, chez Samuel Thiboust.

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