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Oberrheinische Kunst — 4.1929/​1930

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Vöge, Wilhelm: Nicolaus von Leyen's Straßburger Epitaph und die holländische Steinplastik
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https://doi.org/10.11588/diglit.53861#0049

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Nicolaus von Leyen’s Straßburger Epitaph und die holländische Steinplastik
Doch vielleicht hat sich unter den holländischen Epitaphien des 15. Jahrhunderts nicht eines
gefunden, wo, wie auf der Straßburger Tafel, der Rahmen der Nische von den Figuren gesprengt, wo aus
Parteinahme für das Plastische das Tektonische in eine zweite Schicht geschoben war.
Nicolaus Gerhaerts ließ die Gruppe überquellen, ihr plastische Fülle zu geben. Merkwürdig aber,
wie er das Tektonische, das er zurückdrängt, zugleich doch reicher entfaltet, es der Figurengruppe doch
inniger verbunden hat. Die Nische, die auf den holländischen Stücken nur ein von tiefer Kehlung umfriedeter
Kasten ist, in welchem, schlecht und recht, die Figuren ihr Unterkommen haben, ist in Straßburg zwei-
geteilt — durch eine Arkadenstellung, die oben von einem kleinen Gewölbe wieder zur Einheit zusammen-
genommen ist. Jede der beiden großen Halbfiguren unten hat so ihr gesondertes Feld, zugleich aber ist die
Achse des Ganzen betont. Um diese war es dem Meister noch mehr als um die Felderteilung zu tun. Auch die
größere Steilheit des ganzen Aufbaus, das hohe Sich-Aufschwingen des krönenden Bogens, wirken ja im
Sinne eines Hervorkehrens der Mittelachse.
So erhält auch die Gruppe unten ihren Akzent. Das die Nische teilende Mittelsäulchen, hinter der
Wange des Knaben versinkend, dient dessen Gestalt herauszuheben. Die Nacktgestalt des Kindes in den
Vordergrund, in die Mitte zu bringen, in fast voller statuarischer Rundung, ist dem genialen Plastiker das
Wichtigste gewesen. Mit ihren gebreiteten Armen verknüpft die Figur des Knaben nun aufs schönste die
beiden großen Gestalten zur Dreifigurengruppe. Diese noch fester zusammenzuschließen, sind die zwei
Halbfiguren dann zueinander in Kontrast gesetzt. Der Pfaffe ist sichtlich geruhiger, feierlicher1, die Madonna
um eine spürbare Abschattung bewegter, als auf der nächstverwandten Utrechter Tafel.
Doch es war dieses Spätgotikers Meinen nicht, die Bewegtheit der linken Reliefhälfte in der rechten ganz
zum Stillstand zu bringen. Sie staut sich hier und strömt doch fort; bahnt sich nach oben einen Weg: in dem
Spruchbande, dessen Kurve die schwingende Saumlinie von Mariens Schultertuch in gleichlaufendem Zuge auf-
nimmt. Im Schalten mit Parallelen war die Gotik ausbündig von Anfang an. Auf der Straßburger Tafel ist
der Zusammenklang jener Kurven dadurch noch fühlbarer gemacht, daß sie — durch des Kindes Ärmchen —
gar verkettet worden sind.
Weiter oben geht dann die Rolle mit ihren Schleifen in Links-Rechts-Bewegungen über, entsprechend
der Bewegung des Kindes! An das kleine Gewölbe geschmiegt und mit ihrem Ende durch die Zwickel des
Bogens gezogen2, verknüpft sie — spielend — noch einmal die Gruppe dem architektonischen Aufbau. Doch
sie hilft auch, die rechte Hälfte der Tafel gegen die linke auswiegen; denn der Geistliche, so behäbig auch
ausgerundet, mußte an Höhe, an Masse gegen die Gruppe der gekrönten Frau mit dem Kinde notgedrungen
etwas Zurückbleiben3.
Den Ehrgeiz des großen Meisters sieht man so auf der Folie der sorgloser komponierten holländischen
Tafeln sich abzeichnen.
Doch es scheint, das Straßburger Relief hat nicht so sehr durch seine Komposition — und als ein
neuer Typ des Epitaphs — auf die deutsche Kunst gewirkt, wie durch seine Madonna4. Die Gattung des
1 Daher auch der schlichte, schlichtgesäumte Schulterkragen, das schlichte Haar.
2 Wie auf dem kleinen Madonnenstiche des Meisters ES, L. 64.
3 Da die Krone zerschlagen und auch die Beine des Kindes stark beschädigt sind, das seiner Hauptmasse nach
der linken Reliefhälfte zugehört, ist das Gleichgewicht heute gestört.
4 Ein liebenswürdiger Nachklang der Straßburger Komposition aus dem 16. Jahrhundert, aus dem Kreise H. Hol-
beins d. J., scheint mir der Metallschnitt Fabers auf dem Titel des lat. Hortulus animae, Basel, Thomas Wolff 1522 zu sein

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