Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Oberrheinische Kunst — 4.1929/​1930

DOI article:
Panofsky, Erwin: Zur künstlerischen Abkunft des Straßburger "Ecclesiameisters"
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.53861#0137

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Zur künstlerischen Abkunft des Straßburger „Ecclesiameisters'

Auf die Streitfrage der Apostelköpfe, in deren Beurteilung der Verfasser dieses zu seiner Freude nicht
mehr allein steht7, soll hier nicht nochmals eingegangen werden (schließlich läuft alles auf die Frage hinaus,
ob man ihre rauhe, ja wilde Erscheinung als eine Folge jugendlichen Überschwanges oder als eine Folge pro-
vinziellerer Schulung und geringerer Qualität betrachtet), und nur die Möglichkeit einer gewisser-
maßen genetischen Beweisführung sei wenigstens angedeutet. An den Köpfen einiger Evangelisten vom Welt-
gerichtspfeiler, besonders deutlich an dem des Marcus, und ebenso an mehreren Apostelköpfen des Marientod-
Reliefs fällt die Eigentümlichkeit auf, daß die Barthaare das Kinn nicht in vertikalen Strähnen überlaufen,
sondern es in konzentrischen Querkurven, die in der Kinnspitze ihren gemeinsamen Mittelpunkt haben, als
eine Sonderform herausmodellieren, um dann in symmetrischen Schlangenlinien — man könnte sagen: omega-
förmig — nach außen zu biegen (Taf. 60, Abb. 1). Diese sehr charakteristische Stilisierung des Bartes geht, wie es
scheint, auf den Chartreser „Salomon-Meister"8 zurück (Taf. 61, Abb. 3) ; und nun ist es nach meiner
Meinung offensichtlich, daß sie in den genannten „echten" Köpfen sehr sinngemäß verfeinert und weiter-
gebildet wird, in den Apostelköpfen aber ebenso zu einer unverstandenen „maniera" degeneriert ist — die
einzelnen Bartsträhnen strahlen entweder wie ein Fransenornament von der Kinnfläche aus (Taf. 60, Abb. 3) oder
sie streben in kaum kurvierten Schrägen auseinander (Taf. 60, Abb. 4) —, wie die Behandlung des Kopfhaars,
das sich nicht plastisch von der Schädeldecke löst, sondern derselben in lebloser Weise anhaftet9, und wie die
Durchformung der Stirnen, deren ursprünglich wohlmotivierte und mit den Bedingungen der Knochen- und
Muskelanatomie in Einklang stehende Pathosfalten zu ziemlich schematisch in kahle Flächen eingetragenen Ritz-
linien erstarrt sind (vgl. dagegen die makellos glatten Stirnen der Büsten von Besangon). Die Straßburger
Apostelköpfe können — darin ist Jantzen unbedingt zuzustimmen — nicht unmittelbar aus Chartres abgeleitet
werden; aber das ist nicht deswegen unmöglich, weil sie eine spontane Neuschöpfung des jugendlichen Ecclesia-
meisters wären, sondern deswegen, weil sie bereits diejenige Umformung der Chartresischen Typen voraus-
setzen, die sich in den Werken des reifen Ecclesiameisters vollzogen hat10. In diesen erscheint die Haar-
7 Vgl. etwa W. Stechow, Göttingische Gelehrte Anzeigen 1927, S. 108; H. Schrade, Deutsche Vierteljahrsschrift
f. Literaturwiss. und Geistesgesch., VII, S. 364 (Hamann-Weigert, S. 66, gehen, anscheinend ohne meine Besprechung im Rep.
zu kennen, sogar noch über die dort vertretene Ansicht hinaus, indem sie die Apostelköpfe bis ins vierte Jahrzehnt des
13. Jahrh. herabrücken); A. Dörner in Cicerone, XXI, 1929, Sonderheft Kunstliteratur, S. 26 (mit berechtigter Skepsis gegen
Hamann-Weigert, aber unter Anerkennung der Tatsache, daß die Apostelköpfe eine den Evangelistenköpfen gegenüber
„generationsmäßig" jüngere Stilphase vertreten). Auch Herr Prof. Otto Schmitt, der die Apostelköpfe schon früher, wenn-
gleich ohne nähere Erörterung ihres Verhältnisses zu den eigenhändigen Werken, kurz als „Gesellenarbeit" bezeichnet hatte
(Got. Skulpturen des Straßburger Münsters, 1924, I, S. 15), hatte die Freundlichkeit, mich brieflich seines Einverständnisses
zu versichern.
8 Über ihn vgl. Vöges berühmten Aufsatz in Zeitschrift f. Bild. Kunst, N. F. XXV, 1914, S. 193 ff.
9 Das gilt sogar von dem Johanneskopf (Taf. 61, Abb. 2), dessen drei angeklebte Stirnlocken zu der gewaltigen
Seitenmähne in einem merkwürdigen Gegensatz stehen; m. E. setzt dieser Johanneskopf, dessen Formen schon Jantzen (S. 34)
als „frauenhaft weiche" auffielen, neben dem Kopf des Evangelisten Johannes vom Engelspfeiler auch den der sterbenden
Maria aus dem „Marienrode" voraus (Taf. 61, Abb. 4). Auch der „merkwürdig negroide Kopftypus" der bekannten Straß-
burger Konsolfigur (Jantzen S. 63 und Abb. 26) dürfte die Kenntnis des Chartreser Salomonmeisters voraussetzen, dessen
bereits von Vöge abgebildeter Negerkopf m. W. den ersten (und, von Straßburg abgesehen, für längere Zeit singulären)
Fall eines modellgetreu durchgebildeten Fremdrassen-Typus darstellt.
10 In einem im gleichen Hefte dieser Zeitschrift wiedergegebenen Vortrag, in den er mir freundlichst Einsicht zu
nehmen gestattete, hat Dr. Kurt Bauch den Nachweis unternommen, daß der Schöpfer der Straßburger Apostelköpfe — in denen
er ebensowenig Frühwerke des Ecclesiameisters zu erblicken vermag wie ich — direkt und ausschließlich mit Besangon in
Verbindung stehe. Ich finde diese These, die die Stildifferenz zwischen den Apostelköpfen und den Köpfen vom Engelspfeiler
noch besser erklärt als es bisher der Fall war, unbedingt einleuchtend, möchte aber meinen, daß sie die hier behauptete Ab-
hängigkeit des Apostelmeisters vom Ecclesiameiser (die mir nach wie vor durch die Pathosfalten, die den Besangon-Köpfen

125
 
Annotationen