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Oberrheinische Kunst — 4.1929/​1930

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Mahn, Hannshubert: Ein "Heilig Grab" von 1300
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https://doi.org/10.11588/diglit.53861#0144

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Hannshubert Mahn/Ein „H eilig Grab" vor 1300
Gebirg von Gewand; tiefe Klüfte und Schächte, schroffe Kanten und Ecken, spitze Zacken. Dazwischen aber
weiche Ränder an Mantel und Kopftuch.
Die Frau links: In einzigartiger inniger Gebärde hoch- und weitausschmiegende Arme, vor-,
seit-, beinah auch rückschwingender Oberleib, schiefschwebender Kopf. All diese musikalische Labilität gebannt
in tektonische Stabilität: in einen Mantel von symmetrischer Duplizität. Brennpunkt: Das Salbgefäß. Dorthin
tropft, bogt, trichtert Gewand von fast hypertrophischer Plastizität. Unten, zwischen den äußeren Spitzröhren,
ankert zwiefach die Fülle des Kleids.
Die Füße beider Frauen werden jeweils durch den Gewandblock verdeckt, ersetzt. Die Leiblichkeit
dieser Wesen beginnt erst oberhalb der Gürtel. Die derben Gesichter (mit auffällig dicken Nasen) stets recht-
winklig, eine Form, die auch sonst — mehr oder weniger versteckt — erscheint.
Das Ganze: Keine Freigruppe, aber in ihrer Wandbedingtheit eine freie runde Gruppe. Die drei Gestalten
sind aufeinander angewiesen. Bei aller Emanizipation ergeben die — mit feinem Gefühl gegeneinander ab-
gewogenen — Massen und Kräfte, Achsen und Linien, Energien und Emotionen eine Totalität. Aber keine
Harmonie! Denn die enthaltene Bewegung ist nicht lebendig, sondern lebhaft: momentan-outriert. Keine
Er-füllung, sondern Ver-drängung. Fermatiertes sforzato. Die Erregung in Gewändern und z. T. Gebärden
wird übersanftet, fast überstillt von der Ergebung in den Gesichtern.
Immer wieder Paradox-Synthetik: Auf-lösung und Ein-starrung, Zerrissenheit und Verkrampftheit.
Tragische Polarität. „Deutscher" Barockismus.
Stildiagramme für provinziell-eklektische Kunst, obendrein auf extrem-subjektiven Spätstufen, bedürfen
außerordentlicher Vorsicht. Einzelheiten wiegen wenig, wo neben einem archaisierenden Bart modernisieren-
des Haupthaar, unter „zackigem" Kopftuch ein „schlaffer" Saum vorkommen. Hauptsächlich spüre ich „schwel-
lenden“ Stil, jedoch beschwert noch mit „starrem". Dank Weigert14 kann ich mich kurz fassen. Bestimmte
Ein- (oder Aus-)flüsse sehe ich nicht, nur die Strömung. An ihr lagen Wimpfen (Disorganik; 1270er Jahre)15,
Konstanz (Plastizität, auch negative; um 1280)16, Regensburg (um 1280)17, Straßburg („Propheten"
und namentlich manche „Tugenden"; Inkommensurabilität; 1280er Jahre)18. Am nächsten (auch örtlich!)
unter den mir bekannten Denkmälern stehen den Schnitz werken zu Ems Glas malereien zu Kappel.
(Der Wechsel zur Schwesterkunst kaum zufällig, sondern stilsymptomatisch.) In den Oberlichtern des Lang-
hauses dieser ((Zisterzienser-) Kirche muten einige Heilige (zwischen 1300 und 1308)19 wie Brüder unserer

14 H. Weigert, „Die Stilstufen der deutschen Plastik von 1250—1350" in Marburger Jahrbuch für Kunstwissen-
schaft, III (1927), S. 147 ff.
15 Zuletzt Weigert a. a. O., S. 172f. Dazu: J. Baum, Gotische Bildwerke Schwabens (1921), S. 83 ff. mit zahlr. Abb.
Nach Abschluß des Manuskripts: E. Schweitzer, Die Stiftskirche St. Peter zu Wimpfen im Tal (1930; Studien zur deutschen
Kunstgeschichte, Heft 267).
16 R. Busch, „Das Hl. Grab zu Konstanz" in Oberrheinische Kunst, I (1925/1926), S. 106 ff.
17 L. Heidenhain, „Quellen zum Stil des Erminold-Meisters" in Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen, Bd. 48
(1927), S. 183 ff. (mit dem wichtigen Hinweis auf Troyes {S. 203 f.J).
18 Vgl. besonders O. Schmitt, Gotische Skulpturen des Straßburger Münsters (1924), Taf. 89 r. und 901. Dazu
R. Hamann und H. Weigert, Das Straßburger Münster (1928), S. 86 f.
19 H. Lehmann, „Geschichte der Glasmalerei in der Schweiz" in Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft Zürich,
Bd. 26 (1906), S. 185 f. mit Taf. III (danach verkleinert Fig. 284 in A. Michel, Histoire de l’Art, tom. II, 1). Der zeitliche
Ansatz auf Grund heraldischer Studien. K. Escher teilt im Anhang „Deutsche Schweiz" zu G. Dehio, Handbuch der deutschen
Kunstdenkmäler, IV (19262) mit, daß das Langhaus 1345 geweiht worden sei. Chorweihe 1231! Wahrscheinlich bezieht sich
die erste Zahl auf einen Neubau, in den ältere Fenster übernommen wurden.

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