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Oberrheinische Kunst — 4.1929/​1930

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Feurstein, Heinrich: [Rezension zu: H. H. Naumann, Das Grünewaldproblem und das neuentdeckte Bildnis des zwanzigjährigen Matthias Nithart aus dem Jahre 1475]
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https://doi.org/10.11588/diglit.53861#0241

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Buchbesprechungen

müter täuschen könnte und die methodisch völlig verfehlten
Aufstellungen in das Schrifttum der zahlreichen Schönschrei-
ber eingingen, die heute über Grünewald mehr Dichtung als
Wahrheit verbreiten. Nur aus diesem Grunde sei in eine
Besprechung des im höchsten Grade irreführenden Buches
eingetreten. Um so bedauerlicher bleibt — wie kann ein
ernster und verdienter Verlag sich so weit vergessen! — die
marktschreierische Art der Anpreisung des Buches, die nur
zu deutlich die fehlende innere Standfestigkeit des Druck-
werks verschleiern soll, in Wahrheit jedoch abstoßend wirkt.
Der Gedankengang ist kurz dieser: Naumann entdeckt in
dem angeblichen Selbstbildnis MN. das Gesetz „des magischen
Blickpunktes und der mathematischen Zahl". Dieses Gesetz
kennt im Jahre 1475, dem behaupteten Entstehungsjahr des
Bildes, nur Martin Schongauer. Also ist MN. ein Schüler
dieses Meisters. Da später nur noch der Meister der Berg-
mannschen Offizin (Dominikusmeister) dieses mittelalter-
liche Bauhüttengeheimnis kennt, ist er mit Grünewald per-
sonengleich. Mit dieser verblüffenden Auffassung stürzt die
landläufige Auffassung von Grünewalds Frühzeit in sich zu-
sammen. Diese weitet sich in ungeahnter Weise und nimmt
das ganze Werk des Bergmannmeisters (Dominikusmeister)
in sich auf, und der Lindenharter Altar gehört bereits zur
reifen Spätstufe des Meisters, der damals (1503) ein angehen-
der Fünfziger war.
Unter dem Gesetz des magischen Blickpunktes und der
mathematischen Zahl versteht Naumann dieses: Schongauer
findet 1474 die Linienperspektive mit dem einheitlichen
Fluchtpunkt der Tiefenlinien. Diesen Fluchtpunkt — mitunter
sind es auch mehrere — legt er absichtlich an eine bestimmte
„aus Gründen des Bildsinnes gewählte Stelle" (magisch-
sinnvoller, geheimnisvoller Blickpunkt). Sodann entdeckt er
„neben der Bedeutung der Maßbeziehungen zwischen den
Bildseiten die Führerrolle gewisser Linien und Punkte, so
die der senkrechten und wagrechten Bildmittelachsen, sowie
des Bildmittelpunktes. Es wird ihm klar, daß der Künstler
durch eine regelmäßige Aufteilung der Bildkanten und durch
stetig variierte Benutzung der Teilungspunkte dem zeich-
nerischen Gebilde einen geheimen Rhythmus einflößen kann"
(Gesetz der mathematischen Zahl).
Alle diese Dinge hat Grünewald und nur er übernom-
men. Er ist der „Genetische Konstrukteur", ein Mann
Lionardesker Vielseitigkeit.
Naumann sucht seinen Standpunkt mit zahlreichen Kon-
struktionsschematen zu beweisen, die auf den Deckblättern
seiner Abbildungen eingezeichnet sind.
Diese Beweisführung des Verfassers, der sich in diesen
Lieblingsgedanken völlig verrannt hat, und dem archivalische
Funde, Stilanalysen, Bilddeutung u. a. darüber vollständig in
der Versenkung verschwinden, ist gänzlich irreführend.
Zunächst ist die Linienperspektive mit dem gemeinsamen
Fluchtpunkt durchaus keine Erfindung Schongauers, die er
etwa sorgfältig geheim hielt und nur seinem „Lieblings-
schüler" Grünewald anvertraut hätte. Dieses Gesetz war auf
dem Erfahrungswege längst gewonnen, bevor es durch die

Italiener und durch Dürer lehrhaft begründet wurde. Der
Ulmer Holzschnitt der 1480er Jahre (vgl. Bidpai 1483/84,
ferner Wallfahrt Mariä 1487) kennt es so gut wie der
Meister des sogenannten Peringsdörfer (in Wirklichkeit
Augustiner) Altars von 1487 in Nürnberg, wie der Mick-
häuser Altarmeister in Ulm, wie Zeitblom oder Michael
Pacher. Gerade bei Pacher, dem Meister der Froschperspek-
tive mit den langgezogenen Tiefenlinien, läßt sich deutlich
verfolgen, wie die in die Bildtiefen führenden Parallelen sich
haarscharf in einem Fluchtpunkt schneiden. Wohlgemut ver-
wendet das Gesetz schon in der Auferstehung des Hofer-
altars von 1465, die Blockbuch-Ausgabe des Canticum canti-
corum im selben Jahre. Ja, schon Hans Multscher oder viel-
mehr der Meister des Sterzinger Altars wendet Mitte der
1450er Jahre, z. B. in seiner Verkündigung, den gemein-
samen Fluchtpunkt an. Lochner und Witz haben den gemein-
samen Verschwindungspunkt noch nicht, kommen ihm aber
gefühlsmäßig nahe. Schon der Künstler jener Tage wußte
sehr wohl, daß parallele Tiefenlinien für das Auge konver-
gieren und daher konvergierend gemalt werden müssen, um
parallell zu erscheinen.
Auch der „magische Blickpunkt" im Sinne Naumanns ist
keine ausschließliche Angelegenheit Schongauers und Grüne-
walds. Das geschickt gewählte Beispiel Naumanns, wie bei
der Dame mit dem Spiegel (Ritter von Turn, Bergmannsche
Offizin 1493) die Fluchtlinien gleichsam in das Auge des
Teufels zurückstrahlen, läßt sich auch anderwärts, und zwar
überraschend häufig belegen. Die mittelalterlichen Künstler
haben tatsächlich wichtige Bildpunkte durch das Streichen
der Fluchtlinien nach diesen Punkten bewußt betont. Nur
darf man hier Schongauer und Grünewald nicht das ent-
scheidende Verdienst zusprechen. In Zeitbloms Marien-
krönung aus Adelberg fällt der Fluchtpunkt genau mit dem
Scheitel der hl. Jungfrau zusammen, in der Verkündigung
desselben Altars mit dem Kinn des Erzengels. Bei Zeitbloms
St. Valentin in Augsburg liegt der Verschwindungspunkt in
der ausgebogenen Achselhöhle der fallenden Frau, die im
Bildganzen wesentlich ist, in seinem St. Florian von 1483
unter der vorgestellten Kniemuschel des Ritters. In Zeit-
bloms Priester mit der Monstranz (Karlsruhe, Teil des Ulmer
Wengenaltars) strahlen die Fluchtlinien des stark verkürzten
Altartisches und des Fenstergewändes von der Stirne der
Mittelfigur des Altars (Johannes der Täufer) aus. Dasselbe
gilt von dem Holzschnitt in Wallfahrt Mariä, Ulm 1487, wo
die verlängerten Fließenlinien in der Stirne des Jesusknaben
im Tempel münden. Im Mariä Tod des Mickhauser Altars
stoßen die nach hinten ziehenden Parallelen der Bodenfließen
sehr bezeichnend in dem starr nach vorn blickenden Auge
des Apostels zusammen. Beim hl. Lukas des sogen. Perings-
dörfer Meisters münden die Linien, selbst die der kleinen
Tafel mit der Madonna auf der Staffelei, ausgerechnet in der
betonten Schulterspitze des hl. Lukas. Bei St. Wolfgang und
dem Teufel des Michael Pacher sammeln sich die Tiefen-
geraden in dem bedrohlich vorgestellten Knie des Satans, in
zwei andern Bildern desselben Altars fließen sie durch eine
Toröffnung des Hintergrundes in einem Punkte der Land-

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