Repertorium für Kunstwissenschaft (5.1882)

Zur Geschichte der Renaissance-Architektur
in der Schweiz.

Das Nachleben der Gothik.

Der Forscher, der die Entwickelungsphasen der Kunst in ihrem
genetischen Zusammenhange verfolgt, wird neben dem Studium, das er
den tonangebenden Meisterwerken widmet, die zahlreichen Schöpfungen
nicht unberücksichtigt lassen, die oft in unmittelbarer Nähe jener er-
steren das Nachleben älterer Traditionen, oder die Zurückgebliebenheit
der Kunst auf der Peripherie der einzelnen Schulgebiete darlegen.

Wohl möchte es scheinen, dass die Beschäftigung mit dergleichen
Werken ein kleinliches und fruchtloses Schaffen sei, auch ist es ja
wahr , dass das Schwelgen und Schildern beim Anblicke der grossen
und epochemachenden Werke der Kunst eine ungleich höhere Befrie-
digung gewährt. Und doch verlangt die Wissenschaft, dass auch das
scheinbar Untergeordnete, wofern es charakteristisch ist, in den Bereich
des Studiums und der ästhetischen Würdigung gezogen werde, denn
oft ist es die Bekanntschaft mit der Summe des Mittelguten, welche
erst die Möglichkeit eines befriedigenden Urtheiles über die Stellung und
die Bedeutung der einzelnen Schulen gewährt.

Das Maass der Anforderungen, denen der Forscher in dieser
Richtung zu entsprechen hat, stuft sich freilich nach Zeit und Ort in
mancherlei Weise ab. Bei der Schilderung von Zeiten des überall sich
manifestirenden Fortschrittes, wie ihn die Wende des XII. und XIIL
Jahrhunderts für ganz Europa und die Renaissanceepoche für Italien
bezeichnet , wird das Augenmerk zunächst auf die Belege des Neuen
gerichtet sein. Auch giebt es ja Stellen, wo sich die Entwickelung
desselben mit einem Male in consequenter Weise vollzog. Aber so, wie
die Ablösung des Alten in den gefeiertsten Mittelpunkten des italieni-
schen Kunstlebens geschah, hat die Renaissance nicht überall ihre

Ausbildung gefunden. Bald ist sie durch die Nachwirkungen einer
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