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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 12.1921

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Erstes Heft
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Walden, Herwarth: Kritik der vorexpressionistischen Dichtung, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47209#0016

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Ein Organismus, wenn auch ein erschütterter.
Oder ist es überhaupt ein Organismus, bei
dem man die Glieder vertauschen kann.
Oder haben Glieder einen Sinn, die nur
einen Sinn als Glieder haben. Oder haben
die Glieder nicht erst dann einen Sinn,
wenn sie durch Beziehung zu anderen
Gliedern sinngemäss angewandt werden,
das heisst also Leben bekommen. Künst-
liche Glieder sind keine künstlerischen
Glieder. Künstliche Glieder werden be-
wegt, sie bewegen sich nicht. Aber das
Leben ist Bewegung und nur an der Be-
wegung erkennen wir das Leben. Die
künstlerische Bewegung heisst Bhythmus.
Und alle klassischen und nachklassischen
Gedichte sind ohne künstlerisches Leben,
weil ihnen der Rhythmus fehlt. An der
Bewegung, der äusseren und der inneren, er-
kennen wir den Menschen, oder wir ziehen
unsere Schlüsse. Das gilt auch vom Kunst-
werk. Jede menschliche Bewegung ist eine
logische Folge eines Triebes. Jede künst-
lerische Bewegung ist die logische Folge
einer Folge. Nur ist die künstlerische
Logik alogisch. Aus ihr werden die lo-
gischen Schlüsse gezogen. Daher ist jeder
Vergleich unkünstlerisch. Auch der po-
etische. Es gibt überhaupt nichts Poetisches
an sich. Zunächst einmal nicht beim Ma-
terial der Kunst. Die Oelfarbe ist nicht
poetisch. Auch nicht das Material der
Dichtung, das Wort. Die sogenannte po-
etische Wirkung von Wörtern liegt in der
Assoziation des Aufnehmenden. Der Dichter,
der mit Hilfe von sinnlichen Vorstellungen
künstlerische Wirkungen erregen will, also
mittelbar arbeitet, verbindet die sinnlichen
Vorstellungen, im wesentlichen optische,
zu einem Bilde. Diese Bilder der Dichtung
sind in den meisten Fällen ohne Gestaltung.
Und sie sind ohne sinnfällige Wirkung, weil
sie eben nicht nach künstlerischen Gesetzen
gestaltet sind. Hinzu kommt noch, dass
die Dichter der vorexpressionistischen Zeit
nicht einmal die Bilder unmittelbar geben,
sondern sie als Tatsache aussagen. Hein-
rich Heine, der Liebling poetischer Menschen,
sagt zum Beispiel aus:
Ich seh die Schlang’
Die dir am Busen frisst!
Das ist eine Behauptung, die ich glauben
kann oder nicht. Jedenfalls sehe ich die

Schlange noch nicht, auch wenn Heine be-
hauptet, sie zu sehen. Das Bild ist mittel-
bar hingestellt. Dasselbe Bild, unmittelbar
hingestellt, wirkt schon sinnfälliger: „Die
Schlange frisst dir am Busen.“ Hier ist
die Vorstellung beschränkter, weil die
höchst überflüssige Person des Dichters
ausgeschaltet ist. Ueberflüssig um so mehr,
als er bei dem Bildvorgang gar nicht be-
teiligt ist. Es bleibt das poetische Bild.
Ist die Schlange poetisch, oder wird sie es
erst durch ihre Tätigkeit in diesem Bilde.
Oder ist Fressen poetisch. Oder ist die
Poesie des Fressens davon abhängig, was
gefressen wird. Oder ist der Busen poetisch.
Oder will mir ein poesievoller Mensch nach-
weisen, warum eine Schlange poetischer
ist als eine Kuh, oder das Fressen po-
etischer als das Saufen, oder der Busen
poetischer als der Bauch. Oder sind es
diese Gegenstände und diese Tätigkeiten
dadurch geworden, dass der Dichter Hein-
rich Heine sie verwendet. Oder wird alles
wieder unpoetisch, wenn ich nachweise,
dass Heine gar kein Dichter ist. Feinsinnige
Menschen kommen mit der Antwort des
Geschmacks. Warum ist es geschmackvoll,
Schlangen am Busen fressen zu lassen, und
warum geht es gegen den sogenannten
guten Geschmack, auch nur das Wort Bauch
in der Dichtung zu verwenden. Oder was
hat überhaupt die Sichtbarkeit mit dem
Geschmack zu tun. Die Schlange hat zwar
bei ihrer Tätigkeit je nach ihrer Anlage
einen guten oder schlechten Geschmack.
Gewiss, man spricht sogar von Kunstgenuss.
Und jeder geniesst sicher am liebsten das,
was ihm schmeckt. Gibt es aber Normen
was zu schmecken hat. Oder ist vielmehr
der Grad des Genusses und des Ge-
schmackes nicht davon abhängig, wie schwer,
wie leicht und wie oft ein Genuss erreicht
werden kann. Oder ist das Glas Wasser
nach acht Tagen Durst kein Genuss. Oder
ist das Schlafen nach dem Wachen oder
das Wachen nach dem Schlafen kein Ge-
nuss. Oder hat jemandem schon eine
Beethovensche Symphonie gut geschmeckt.
Jedenfalls: Geschmack und Genuss sind
Tätigkeiten des Aufnehmenden und nie des
Schaffenden. Der geschmackvolle Mensch
findet sogar viele Aeusserungen der Natur
geschmacklos. Trotzdem ist es der Natur
noch nie eingefallen, wenigstens soweit es

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