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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 12.1921

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Walden, Herwarth: Kritik der vorexpressionistischen Dichtung, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47209#0017

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mir bekannt geworden ist, sich nach diesem
guten Geschmack zu richten. Sie hat um
so weniger dazu Veranlassung, als sich be-
kanntlich über den Geschmack nicht streiten
lässt. Aber auch darüber ist kein Streit
möglich, dass die Natur sich naturgemäss
in ihrer Gestaltung offenbart. Und dieser
Naturnotwendigkeit entspricht die Kunst-
notwendigkeit. Daher gelten die Begriffe
des Geschmacks und des Poetischen nicht
für die Kunst. Nichts Gegenständliches ist
an sich künstlerisch oder unkünstlerisch.
Das Künstlerische oder Unkünstlerische
entsteht bei der mittelbaren Dichtung erst
durch die Beziehungen, also durch das
„Bild.“ Das Bild der Dichtung kann lo-
gisch und alogisch sein. Der Dichter kann
das eine oder das andere anwenden. Die
Verbindung der beiden Möglichkeiten ist
unlogisch, wenn nicht das logische und das
alogische Bild erkennbar relatives Material
einer absoluten alogischen Komposition
sind.
Die mittelbare Dichtung kann auch durch
Aussagen gestaltet werden. Die Verbindung
einer Aussage und eines Bildes innerhalb
derselben Dichtung ist aber gleichfalls
nur in dem einen einzigen genannten Fall
' möglich.
Ich seh die Schlang’
Die dir am Busen frisst
Ich seh, mein Lieb,
Wie sehr du elend bist.
Es ist nicht meine Schuld, aber die Strophe
ist von Heinrich Heine. Hier ist der Fall
der Verbindung eines Bildes mit einer Aus-
sage. Eins von beidem ist überflüssig. Die
letzten beiden Verse sind die Erklärung
der ersten beiden Verse. Wozu wendet
man aber Bilder an, die so wenig zu sehen
sind, dass man sie erklären muss. Oder
wenn man sie schon sieht, warum muss
man sie dann erklären. Die Dame ist mit
dem Bilde schon gestraft genug. Oder ist
etwa die Dame nur deshalb elend, damit
sie sich auf die Schlange reimt, die ihren
Busen frisst.
Aber auch das ungereimte Gedicht von
Heinrich Heine ist künstlerisch ungereimter
Unsinn. Ein Gedicht wird nicht etwa da-
durch künstlerisch, dass man nicht reimt.
Man beachte die Rhythmik:

Täglich ging die wunderschöne
Sultanstochter auf und nieder
Um die Abendzeit am Springbrunnen
Wo die weissen Wasser plätschern.
Die Strophe reimt sich zwar nicht, ist aber
dafür ohne Bhythmik. Die Sultanstochter
auf und nieder plätschert in demselben
Tempo, wo die weissen Wasser gehen. Sie
geht also einen Bhythmus, dem der Begriff
gehen nicht entspricht. Ausserdem ging
sie, während die Wasser noch plätschern.
Aber nicht einmal die Interpunktion, die
Metrik, ist richtig. Man höre:
Eines Abends trat die Fürstin
Metrum und Rhythmus schliessen sichtbar
nach dem Willen des Dichters hier ab.
Eines Abends trat die Fürstin. Eine Aus-
sage, eine Handlung. Und zwar eine Hand-
lung in der Vergangenheit. Der Wort-
stellung und dem Klangwert nach ist das
Entscheidende das Treten.
Auf ihn zu mit raschen Worten
Der Wortstellung und dem Klangwert nach
liegt das Entscheidende in den Wörtern
z u und Worten. Die falsche Metrik,
die falsche Takteinteilung, ist ohne weiteres
ersichtlich. Das Metrum müsste näm-
lich richtig heissen:
Eines Abends
Trat die Fürstin auf ihn zu
Mit raschen Worten.
Nun kann hier wieder eingewandt werden,
dass man die beiden Zeilen hintereinander
lesen könne. Das kann man aber nicht.
Denn der Dichter hat selbst durch die Vers-
einteilung bestimmt, was auf einmal auf-
zunehmen ist. Nun wird man einwenden,
dass die Verse nach der Rhythmik eingeteilt
seien. Man kann aber nur metrisch, nie
rhythmisch einteilen. Denn das Metrum ist
die Messung des Rhythmus, der Bewegung.
Die Verse sind aber auch nicht einmal
rhythmisch eingeteilt. Sie sind nicht nach
dem Klangwert und nicht einmal nach dem
Gefühlswert der Wörter gegliedert. Sie
sind mechanisch nach betonten und unbe-
tonten Silben zusammengestellt und auch
dieser Mechanismus ist nicht einmal kon-
sequent durchgeführt. Es fehlt also jeder
Versuch eines künstlerischen Willens und

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