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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 12.1921

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Erstes Heft
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Walden, Herwarth: Kritik der vorexpressionistischen Dichtung, [3]
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Blümner, Rudolf: Briefe an Paul Westheim, [4]: Zur Geschichte des Sturm und des deutschen Journalismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.47209#0018

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einer künstlerischen Absicht. Für Schwer-
hörige füge ich noch folgenden Vers hinzu:
Und der Sklave sprach: Ich heisse
Hier müsste sogar ein Tauber merken, was
nicht Kunst ist. Selbst wenn man in der
nächsten Zeile erfährt, wie der Sklave
heisst, ist diesem Vers dadurch nicht ge-
holfen. Die Zeile reicht nicht einmal für
eine polizeiliche Anmeldung aus. Die Aus-
sage, dass der Sklave spricht und heisst,
ist auch als Aussage ohne jede gefühls-
mässige Bedeutung. Das sind Verse des
berühmten lyrischen Gedichts der „Asra“.
Hier atmet der Leser erleichtert auf. Sein
Heinrich Heine ist gerettet. Denn, wird er
einwenden, der Asra ist ein anerkanntes
Gedicht und zweitens kommt die Lyrik und
das worauf es ankommt, in den letzten
beiden Versen der letzten Strophe. Warum
muss man vierzehn Verse lesen, die keine
Verse sind, wenn es nur auf den fünf-
zehnten und sechzehnten ankommt. Viel-
leicht wird man nun zur Entschuldigung
des Dichters einwenden, dass eben die
Pointe immer erst am Schluss eines Witzes
kommt. Ist aber der Witz ein Gedicht oder
ist die ganze Dichterei nur ein Witz.
Warum wird dann aber wieder die Lyrik
bemüht:
Und mein Stamm sind jene Asra
Welche sterben wenn sie lieben.
Hier kann der Mensch sich etwas denken.
Es wird ihm die Mitteilung von einem
Seelenzustand jener Asra gemacht, die auf
Liebe automatisch mit Selbstmord reagieren.
Mehr sagen diese Verse nicht aus. Diese
Gcfühlsentäusserung wird sogar ganz sach-
lich nur für jene Asra festgestellt Hier ist
aber der typische Fall für die Stimmung.
Der Leser denkt an jene seine Liebe, für
die er unter Umständen hätte sterben können.
Was er aber zu seinem Glück nicht getan
hat, weil er eben zufällig nicht jenem Stamm
der Asra angehörte. Er kann sich aber
mit Leichtigkeit denken, dass er es in dem
genannten Falle zweifellos gern getan haben
würde. Hiermit ist bewiesen, dass die
Zeilen lyrisch sind. Sie versetzen nämlich
„einen“ in Stimmung. Aber um der Kunst
willen, doch nicht durch das Wort und
durch die Wortkomposition, sondern durch
die beabsichtigte oder nicht beabsichtigte

Handlung. Wo aber ferner noch zu be-
weisen wäre, dass der Selbstmord aus Liebe
lyrisch ist. Andre finden ihn vielleicht ko-
misch. Also hat offenbar nicht die Hand-
lung eine seelische Eigenschaft, sondern die
Auslegung. Die Auslegung erfolgt aber
wieder durch einen Vergleich. Also es
stimmt alles nicht. Ohne Pointe als Aus-
sage mit gefühlsmässiger Deutung müsste
der Vers etwa heissen:
Menschen sterben, wenn sie lieben.
Der Fehler dieses Verses wäre jetzt nur noch
die gefühlsmässige Eindeutigkeit. Ihm ist
aber die Auslegung, der Vergleich und die
Komik genommen. Das wollte nämlich
Heinrich Heine ausdrücken. Nur schrieb
er statt dessen fünfzehn überflüssige Verse
und machte aus dem einen lyrischen Vers
eine Pointe auf Grund einer Sittenschilderung.
Fortsetzung folgt

Briefe an Paul Westheim
Zur Geschichte des Sturm und des
deutschen Journalismus
Vierter Brief
Da ich mir die Freiheit gesichert habe, mein
Material nach Gutdünken zu verwenden, so
will ich von dieser Freiheit auch den rechten
Gebrauch machen. Schon tadeln mich Einige,
dass ich Ihnen zu einer Art von Berühmtheit
verhelfe. Andere meinen, Sie seien mehr ein
unwissender und bedauernswerter Mensch als
ein bösartiger. Auch wollen Einige noch nicht
begreifen, warum gerade Sie den Fluch dieser
Briefe tragen sollen. Man wird Sie besser
kennen lernen und um die Berühmtheit weder
beneiden noch bemitleiden. Man wird erfahren,
wozu Sie fähig sind, wenn Herwarth Walden
Ihnen kritische Unfähigkeit vorwirft und Ihnen
das Recht abspricht, zu tadeln oder zu loben.
Sie schrieben am Ende Ihres Artikels im
„Kunstblatt“ (April 1920)-
„Warum entlaufen immer mehr alle die Künst-
ler, die nicht bloss nur „Sturmkünstler“ sind,
dem Geschäftsbetrieb des Herrn Walden:
Kokoschka, Klee, Feiningcr, ganz zu schweigen
von den Fällen Marc, Macke, Essig, Jawlensky,
Chagall?“
Sie sollen, wenn die Zeit gekommen ist, eine
Antwort erhalten, die Sie befriedigen wird.
Ich will einen Band deutscher Kunstgeschichte
daraus machen, der dem Sturm und Herwarth

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