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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 12.1921

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Drittes Heft
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Walden, Herwarth: Kritik der vorexpressionistischen Dichtung, [5]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47209#0061

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DER STURM
MONATSSCHRIFT / HERAUSGEBER: HERWARTH WALDEN

Kritik der vor^
expressionistischen Dichtung
Herwarth Walden
Fortsetzung
Die Deutschen, insbesondere die Herren Pro-
fessoren der Universitäten, haben wenigstens
in der Kunst ein Klassenbewusstsein. Nicht
nur die Dichter werden in Klassen einge-
schult, auch die Dichtungsformen werden
in Fächer verteilt. Die Dichtung hat be-
kannntlich drei Fächer: Drama, Epik und
Lyrik. Es wird gelehrt, dass das Drama
die höchste Kunstform sei, die Epik ziemlich
hoch, namentlich wenn sie sich mit ge-
schichtlichen Stoffen drapiert, während die
Lyrik mehr für das Proletariat der Dichter
ist. Eigentlich zählt ja für die Intellektuellen
das Proletariat nicht mit. Nur weil einige
Dramatiker die Liebenswürdigkeit hatten,
sich in ihren Mussestunden mit Gedichten
zu befassen, ist diese Kunstform anerkannt.
Solide Dramatiker haben ihrerseits auf die
Lyrik verzichtet. Sie waren von ihren Auf-
gaben so erfüllt, so brave Schüler ihres
Talentes, dass sie sich mit Spielereien nicht
abgeben konnten. Selbst Goethe hat meistens
nur Gelegenheitsgedichte verfasst. Schiller
hat diese Spielereien durch den sittlichen
Ernst des Materials, nämlich Fabel und
Geschichte, gehoben. Die Romantiker haben
sich bekanntlich vergebens am Drama ver-
sucht. Die Form war ihnen eben zu hoch.
Recht schlimm steht es auch um die Epik.
Goethe hat sich mit dem Roman und der
Novelle befasst, sogar mit reiner Epik,
Schiller hat es wenigstens zu einem Frag-
ment gebracht und Heinrich Heine hat das
Feuilleton erfunden.
Also das Drama ist die höchste Kunstform.
Diese Kunstform unterscheidet sich von der
Lyrik sichtbar darin, dass eine Wortzeile

immer bis an das Ende des Druckspiegels
geführt wird. Es fällt also auch die will-
kürliche metrische Einteilung fort. Die
metrische Einteilung wird sogar dadurch
organisch. Denn hinter das Ende einer
Zeile kann man nichts mehr setzen. Für
diese Art der Einteilung hat man das Fach-
wort Prosa erfunden. Nun wird zwar vom
Dichter verlangt, dass er nicht prosaisch
sei. Trotzdem ist diese Prosa das Mittel
der höchsten Kunstform. Die Forderung,
dass der Dichter nicht prosaisch sei, bezieht
sich nur auf den Inhalt. Die Form ist
eben für die Deutschen eine Spielerei und
auf die Spielerei kommt es eben nicht an.
Hingegen der Inhalt stellt seine Forderungen.
Das Drama muss nämlich veredelnd oder
besser noch versittlichend wirken und wird
zur Belohnung in der bekannten moralischen
Anstalt, dem Theater, sichtbar gemacht. Es
wird gelehrt, dass die Träger der Kunst-
form Drama Menschen sind. Zur Zeit der
Klassiker müssen es edle Menschen sein,
unedle Menschen dürfen nur insoweit ver-
wandt werden, als sie durch ihre Schatten
die edlen Menschen im denkbar besten
Licht erstrahlen lassen. Die neuere Kunst-
kritik gestattet auch die natürlichen Menschen
bis hinunter zum Lumpenproletariat. Die
natürlichen Menschen scheinen also offenbar
andere Gattungsgeschöpfe als die edlen
Menschen jener grossen Dichtungszeit zu
sein. Und da man von der Natürlichkeit
der Menschen dieser Gegenwart des Dramas
so entzückt ist, muss man schon den Schluss
gestatten,dass die edlen Menschen jener klassi-
schen Zeit unnatürlich gewesen sind. Die
Klassiker müssen etwas Ähnliches selbst
empfunden haben. Denn sie gaben alle sogar
die prosaische Form auf und wandten die ge-
hobene Sprache an,wie man sich feierlich aus-
zudrücken beliebt. Diese gehobene Sprache
unterscheidet sich von der Prosa dadurch,

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