Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 12.1921

DOI issue:
Drittes Heft
DOI article:
Walden, Herwarth: Kritik der vorexpressionistischen Dichtung, [5]
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.47209#0062

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext

rtry^rrrvrt^r

dass man die Silben der Wörter nachzählen
kann und die Zählung zum grössten äs-
thetischen Ergötzen stets fünf ergibt. Wenn
einem grossen Dichter nicht zehn Silben
für eine Zeile eingefallen sind, hat er nach
Ansicht der Schriftgelehrten eben einen
F'ehler begangen, der unter allen Umständen
zu tadeln ist. In Anbetracht des sonstigen
Fleisses des Schülers, des Dichters, werden
diese Fehler wohl wollend als Licentia
poetica bezeichnet. Dichter sind eben keine
prosaischen Menschen, es muss ihnen daher
die Freiheit gegeben werden, gelegentlich
einmal nur bis drei zählen zu brauchen.
Hiermit ist aber der Reichtum der gehobenen
Sprache noch nicht behoben. Jede Zeile
muss nämlich fünf betonte Silben enthalten,
wodurch sich die Kunstform des Dramas
allerdings erheblich der Spielerei der Lyrik
nähert. Auf diesem niederen Gebiete treibt
man bekanntlich eben solche Scherze. Die
gehobene Sprache ist also metrisch gegliedert.
Da man aber laut Vorschrift die unbetonten
Silben nicht zu zählen braucht, scheint also
auch der Begriff des Rhythmus im Drama vor-
handen zu sein. Die Wesensverwandtschaft
mit der Lyrik lässt sich immer schwerer
verleugnen. Nur kommt es dem Dramatiker
nicht auf den inneren Rhythmus an. Dem
Lyriker allerdings auch nicht, wie festgestellt
worden ist. Aber wir wollen uns nicht in
die Kleinlichkeiten der formalen Spielerei
verlieren, wo es sich um weit ernstere Dinge
handelt. Vor allem einmal handelt. Denn
Drama heisst Handlung und die Träger des
Dramas, die Menschen, erkennt man be-
kanntlich am besten beim Handeln. Die
höchste Kunstform hat selbstverständlich
nur mit ersten Handlungen zu tun. Mit
edlen Handlungen. Was ist eine edle Hand-
lung. Da man die Menschen nach Ansicht
der Seelenforscher, zu deutsch Psychologen,
am besten an ihren Handlungen erkennt,
wird es am besten sein, die Handlung eines
echten Dichters zu untersuchen, um uns
auf die Vorstellung einer edlen Handlung
besserer Menschen einzustellen. Da zu einer
Handlung immer mindestens zwei gehören,
treten im Drama verschiedene Personen
auf, wie man sich literarisch ausdrückt. Die
monumentale Wirkung wird dadurch er-
reicht, dass möglichst viele Personen auf-
treten, was immer einen Masseneindruck
hervorruft. In reiferem Alter, wo es die

Masse nicht mehr so macht, begnügt sich
der Dramatiker mit weniger Personen. In-
folge seiner geklärteren Weltanschauung
gibt er das Volk auf. Das Volk ist in dem
Zeitalter der Humanität stets peinlich als
Staffage empfunden worden, das man eben
mitnimmt, weil es nun einmal auf der Erde
ist. Das Volk spricht im Drama auch stets
im Chor und zwar ensemble, weil es eben
nicht so edle Gedanken wie die Personen
hat. Das Gewaltige der dramatischen Kunst-
form besteht nun darin, dass der Dichter
nicht etwa nur eine Person ist, sondern
dass er so tun kann, als ob er alle Personen
ist. Vom Volk ganz zu schweigen. Er
verteilt wie ein gütiger Gott seine Gedanken
in Prosa oder in gehobener Sprache auf
die einzelnen Personen und das Volk und
hält eine anregende Vielsprache mit sich
selber. Er ist der Typus aller Individualisten
zusammengenommen. Er liebt wie die
Jungfrau von Orleans, er kämpft wie Götz
von Berlichingen, er leidet wie Maria Mag-
dalena, er träumt wie Torquato Tasso, er
tötet wie Wilhelm Teil, er raubt wie Karl
Moor, er schwärmt wie Marquis Posa, mit
drei Worten: er kann alles. Nichts Mensch-
liches ist ihm fremd. Noch mehr. Er bringt
Individuen in Konflikte, soweit es die Ge-
schichte nicht schon vorher für ihn getan
hat und er löst sie wie ein gütiger Gott
durch den schlichten Tod. Dann nennt
man es Tragödie. Wenn aber die Individuen
einen modus vivendi finden, freut man sich
allerseits, und die Komödie ist vollendet.
Das alles wäre aber nichts, wenn der Konflikt
nicht versittlichend wirkt. Deshalb muss
Schiller dem deutschen Volke erhalten
werden, wenigstens so weit es aus gehobenen
Ständen besteht, die gewohnt sind, in ge-
hobener Sprache zu denken. Schiller ist
neuerdings zum Expressionisten ernannt
worden, weil er unnatürlich ist. Und zwar
von denselben gehobenen Ständen, die den
Expressionismus wegen seiner Unnatur ab-
lehnen. Es gibt eben eine natürliche Un-
natürlichkeit. Sie heisst auf deutsch klassisch,
ist von sittlicher Kraft und wirkt veredelnd
und erzieherisch auf das Mensch. Die Kunst
spielt im Drama bekanntlich keine grosse
Rolle, sie wird nur durch die gehobene
Sprache hintenrum hineingelassen, an ihrer
Stelle treten äusser den Personen die sitt-
lichen Eigenschaften auf.

46
 
Annotationen