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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 12.1921

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Drittes Heft
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Walden, Herwarth: Kritik der vorexpressionistischen Dichtung, [5]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47209#0063

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kein geringerer als Ludwig Bellermann,
einst Direktor des Gymnasiums zum Grauen
Kloster in Berlin, hat uns Schiller mensch-
lich näher gebracht. Auf das Künstlerische
kommt es hei der höchsten Kunstform
nicht so an. Bellermann hat alle Hände
voll zu tun, um Schiller menschlich zu
rechtfertigen. Er wälzt zunächst Lessing
herbei, der zwar nicht von Schiller, aber
von Shakespeare gesagt hat, man soll nicht
kleinlich sein: „Mögen wir im gemeinen
Leben glauben, was wir wollen, im Theater
müssen wir glauben, was er will.“ Weil
er nämlich Shakespeare heisst. Schiller
verwendet nämlich in der Jungfrau von
Orleans das Wunder. Lessing hat aber er-
klärt, dass „das Wunder auf dem Theater
nur in der physikalischen Welt zulässig sei.“
Wenn Lessing das erklärt hat, da kann
man halt nichts machen. Lessing hat noch
mehr erklärt, nämlich, dass „in der mo-
ralischen Welt alles seinen ordentlichen
Lauf behalten müsse.“ Auch das hat Lessing
erklärt. Und Herr Direktor Bellermann
entschuldigt nun die Verwendung des
Wunders bei Schiller gegenüber dem furcht-
baren Lessing damit, dass Schiller „inner-
halb dieser Wunder seine Heldin durchaus
natürlich schildert, nur die äusseren Vor-
gänge, nirgends ihr Charakter treten aus
dem Rahmen des menschlich Verständlichen
hinaus.“ So unmenschlich unverständlich
ist die Jungfrau von Orleans. Die Natür-
lichkeit der Heldin, sagt Herr Direktor
Bellermann, ist „ganz und gar auf natürlicher
psychologischer Grundlage erwachsen.“ Ich
hatte bisher die Psychologie für den Versuch
einer Erklärung des Seelenlebens gehalten.
Es freut mich, durch Herrn Direktor Beller-
mann belehrt zu werden, dass die Psy-
chologie der Grund ist, auf dem natürliche
Heldinnen trotz allen Wundern wachsen.
Wie ein Kornfeld auf der flachen Hand.
Lassen wir uns durch Herrn Direktor
Bellermann gleich in den bekannten Mittel-
punkt des Konfliktes hineinführen, gehen wir
den Leidenspfad an der Hand eines so be-
rufenen Führers: der berühmte Konflikt be-
steht darin, dass „Berufung zur Befreiung des
Vaterlandes und Entsagung der irdischen
Liebe wirklich innerlich und untrennbar zu-
sammengehören.“ So peinlich es mir auch
ist, man kann nur sagen: Da staunste! Das
psychologische Wachstum wird durch die

folgende psychologische Erklärung sagen
wir destilliert: „Sie kann unmöglich die
Kriegerin des höchsten Gottes sein, also
Kraft und Geist vom Wirbel bis zur Zehe,
und zugleich liebendes Weib, also schwach
und hingebend. Das ist ein innerer unaus-
gleichbarer Widerspruch. Das ist nicht
willkürlich erfunden, sondern aus der Natur
des menschlichen Geistes geschöpft, und es
wird von Anfang an mit besonderer Schärfe
hervorgehoben, weil auf diesem Punkt die
Entwicklung der ganzen Tragödie beruht.“
Da hätten wir also den Punkt und können
uns nun vom Punkt aus mit besonderer
Schärfe entwickeln. Es liegt hier ein soge-
nannter innerer Konflikt vor. Ein Mensch, der
mit sich selber kämpft, weil er nicht immer
kämpfen will. Schiller lehrt also, dass der
Mensch dem moralischen Lauf der Welt
folgend, nicht zugleich Kriegerin des höchsten
Gottes und liebendes Weib sein kann. Bei aller
Verehrung für Herrn Direktor Bellermann
muss doch zugegeben werden, dass Schiller
nicht so dumm gewesen ist, wie Herr Direktor
Bellermann glaubt. Wenn es Schiller auf
die Tatsache angekommen wäre, sozusagen
zu beweisen, dass der Mensch nicht zugleich
Kriegerin des höchsten Gottes und liebendes
Weib sein kann, dann wäre er schon lieber
gleich Schuldirektor geworden. Es dürfte
im allgemeinen auch Schuldirektoren
und Universitätsprofessoren wenigstens aus
ihrem psychologischen Privatleben bekannt
sein, dass kein Mensch andauernd lieben
und kämpfen kann. Ueberhaupt pflegen
die Menschen nie zwei Tätigkeiten gleich-
zeitig auszuüben. Und es scheint mir höchst
unnatürlich zu sein, dass ein Mens ;h wegen
des bisschen Kämpfens nicht aucn einmal
lieben und wegen des bisschen Liebens
nicht auch einmal soll kämpfen können.
Der Konflikt scheint mir nach dieser Auf-
fassung auch gar kein Konflikt zu sein. Denn
warum soll man nicht für einen Gott kämpfen
und einen Menschen gleichzeitig lieben
können? Abgesehen davon, dass es einen
Konflikt zwischen Kampf und Liebe nicht
gibt, weil der Kampf eine TätigKeit und die
Liebe ein Trieb ist. Also Herr Diiektor
Bellerman scheint sich auf einen falschen
Punkt gestellt zu haben. Der Konflikt der
Tragödie liegt in dem Aufgeben einer Idee
zugunsten einer Person. Nachdem dies
richtiggestellt ist, bleibt zunächst die Frage,

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