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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 12.1921

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Viertes Heft
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Bühnenwerk: Spielgang und Spiel
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https://doi.org/10.11588/diglit.47209#0086

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jeder für sich durchzukämpfen hatte, um
das Zueinander der Gemeinschaft zu finden.
Wer in diesem Kampf unterlag oder einen
Ausgleich suchte, war untauglich für die
Hingabe an die Gestaltung. Der Erkenntnis
im inneren Menschen musste die Umwand-
lung des äusseren Menschen folgen. Ein so
gewandelter Mensch hat jede Beziehung zum
Theater gelöst. Er kann nicht mehr be-
greifen, dass es Menschen gibt, die im
Theater eine Kunststätte und Kulturstätte
sehen. Er weiss, dass alle sogenannten
Künstler und Dichter, die das Theater-
geschäft unterstützen, vom Sinn der Kunst
und von dem Sinn, den die Kunst für das
Leben hat, nicht berührt sind. Solange in
den Menschen, die heute Theaterbesucher
sind, nicht eine gleiche Wandlung vorgeht,
können sie nicht die Bühnenkunst sehen.
Daher finden unsere Spiele grundsätzlich
nicht vor der Öffentlichkeit statt. Aus dem
Freundeskreis der Glieder unserer Gesell-
schaft bildete sich ein grösserer Kreis von
Menschen, die regelmässig unsere Spiele
sahen. Auch aus diesem Kreis mussten
sich erst alle vorwiegend literarisch Inter-
essierten und intellektuell Veranlagten lösen,
ehe sich eine Einheit bilden konnte, deren
Sinn gleichgerichtet mit dem Sinn unserer
Gemeinschaft ist. Aus diesem weiteren
Kreis, der sich langsam und beständig ver-
grössert, ergänzt sich nun der enge Kreis
derer, die das Werk schaffen.
Nachdem wir bis heute neun Bühnenwerke
schufen und spielten, ist die Zeit gekommen,
in der wir einige wesentliche Resultate
unserer Arbeit auch Aussenstehenden mit-
teilen können. Wir tun dies, nachdem sich
die Kraft unserer Erkenntnisse durch die
Erfahrung bewiesen hat. Wir tun dies,
damit anderen die Erkenntnis zuteil werde,
und die anderen von sich aus danach
handeln können.
Die erste Mitteilung, die wir geben, ist der
Spielgang des Bühnenwerkes „Kreuzigung“.
Wir geben in diesem Spielgang das System
und die Zeichen, in denen einem Bühnen-
werk die Beständigkeit der Gestalt gegeben
wird. Die praktische Anwendung im Bühnen-
werk „Kreuzigung“ zeigt die Kraft und Aus-
druckmöglichkeit des Spielgangs. Unsere
Spiele des Bühnenwerkes „Kreuzigung“
nach dem Spielgang bewiesen die Be-
ständigkeit der Gestalt.

Der Spielgang enthält die Gestalt des
Bühnenwerkes. Der Spielgang enthält also
die bühnenkünstlerischen Mittel, Wortform,
Wortton, Bewegung und Färb form in einer
solchen Gestalt, dass ihre Gesamtheit die
Gestalt des Bühnenwerkes ist. Jedes Wort
hat seinen Wortton, jede Bewegung ihre
Farbform. Alle Mittel sind rhythmisch ge-
gliedert. Die Gesamtheit der rhythmischen
Gliederungen ist die Einheit des Werk-
rhythmus. Für die einzelnen Mittel und
ihre Gestaltung ist eine sinnfällige eindeutige
Zeichensprache gefunden. Für die An-
ordnung der gestalteten Mittel zur Einheit
der Werkgestalt ist ein sinnfälliges ein-
deutiges System gefunden. Zeichen und
System sind so gefunden, dass ihre An-
ordnung im Spielgang auch als Bildeindruck
dem Sinn des einzelnen Bühnenwerkes
entspricht.
Um die Zeichen und das System des Spiel-
ganges zu erlernen, bedarf es keinerlei
Studiums. WeF zu sehen und zu lesen be-
ginnt, wird ihn schon nach wenigen Zeilen
lesen und sehen können. Voraussetzung ist
allerdings, dass der Leser bühnenkünstlerisch
begabt ist. Ist er das nicht, so wird ihm
Kenntnis der Zeichen nichts nützen. Wer
die Noten der Musik nicht kennt und nicht
musikalisch ist, dem wird die Partitur eines
Ton Werkes eine unverständliche Sprache
sein. Und wenn der Leser einer Partitur
nur die Noten zu lesen weiss, aber nicht
musikalisch ist, so wird ihm die Noten-
kenntnis nichts nützen. Er muss imstande
sein, den Ton, dessen Zeichen er liest, in
'sich zu hören. Ebenso muss der Leser des
Spielgangs eines Bühnenwerkes imstande
sein, wenn er die Zeichen des Spielganges
liest, die Töne in sich zu hören, die Be-
wegungen und die Farbformen in sich zu
sehen. Dies vermag auch der Mensch, der
niemals das Spiel eines Bühnenwerkes ge-
sehen hat. Denn es ist das Wesen der Be-
gabung, dass der begabte Mensch aus seinem
Inneren die Begabung hat, und dass sie
ihm nicht durch Uebermittlung von aussen
wird oder werden kann.
Wer nach unserem Spielgang zu spielen
versucht, muss bühnenkünstlerisch begabt
sein. Das heisst: auch er muss die Kraft
haben, in sich die Töne hören, in sich die
Bewegungen und Farbformen sehen zu
können. Vermag er das nicht, so fehlt die

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