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Zeitschrift für christliche Kunst — 20.1907

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Tepe, Alfred: Rundschau vom Utrechter Domturm
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https://doi.org/10.11588/diglit.4119#0077

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109

1907.

ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST

Nr. 4.

110

dabei über Tür- und LichtöfFnungen unsere
Stützpunkte suchen oder mit einigen Extra-
kosten schaffen. Mit den Dächern gehts ebenso.
Ist unser Haus 7 m breit und 12 bis 14 tief,
so dürfen wir nach alter Weise nicht die 7 m
als Dachbasis annehmen, sondern müssen uns
ein Dachungetüm leisten das 12 bis 14 m
die Beine auseinanderspreizt, eingespannt in
der Straßenrichtung zwischen den unseligen
ßrandgiebeln. Für Treppenbreite und -Steigung
sind Maße vorgeschrieben, die weit über das
privathäusliche Bedürfnis hinausgehen; auch
für untergeordnete Räume wird mehr als aus-
kömmliche Höhe verlangt. Alle diese Anord-
nungen mögen für Etagenhäuser berechtigt sein,
auf das Familienhaus ist eben keine Rücksicht
genommen. So steht denn für den reichen
Mann die kostbare Villa bereit; dem weniger
bemittelten Familienhaupt bleibt nichts übrig,
als mit den lieben Seinigen in Mietskaserne
oder Zinspalast sich einzuschachteln.

„Etagenweis' gelagert wie Geschiebe
Charakterloser Menschenmassenbrei —
In jedem Hof gewerbliche Betriebe,
Doch Straßenwärts die Scheinpalasterei —
Erdrosselt das Familienhaus, das liebe
"Vom Bodenhandel und d;r Baukanzlei —
Die Neustadt stolz dem Fremdling vorgewiesen.
Und hoch als Frucht der Hochkultur gepriesen!''

Zu spät, zu spät, zu spät! O hätten doch
einsichtige und vorsorgliche Regierungen und
Parlamente bei Zeiten heilsame Eingebungen
gehabt! Wie allgemein ist die Expropriation
angewandt worden für alles, was da fleucht
und kreucht, für Chausseen, Kanäle, Eisen-
bahnen. Sie soll ja nur angewandt werden,
im allgemeinen Interesse und bei voller Ent-
schädigung. Aber liegt denn bloß die Mög-
lichkeit schnellster, sicherster und bequemster
Bewegung im allgemeinen Interesse ? Was
geschah für den Sesshaften, den Ruhigen,
der friedlich „post fornacem" sitzen und „bonam
pacem" haben möchte? Wäre den Städten
ein Vorkaufsrecht verliehen worden, das Recht
vom umliegenden Gelände soviel sie zur Er-
weiterung ihres Weichbildes brauchten, für
einen festgesetzten Preis zu erwerben, zum
zehnfachen Preis des landwirtschaftlichen Nutz-
wertes, so wäre der Ureigentümer noch immer
ein reicher Mann geworden, bloß die Speku-
lation wäre eingedämmt und dem baulustigen
städtischen Hausvater ein preiswürdiges Grund-
stück erreichbar gemesen. Nehmen wir den
ackerbaulichen Hektarwert zu fünftausend

Mark an; die Stadt zahlt das zehnfache, baut
Straßen und Kanäle und ist verpflichtet, für
das Zwanzigfache ihren Bürgern eine Parzelle
zu überlassen. Du möchtest, lieber Leser,
Dich ansiedeln, Deiner Familie ein Heim
bereiten nach ihrem Geschmack und ihren
Bedürfnissen. Du wünschest Dir ein Haus
etwa von 7 m Breite und 14 m Tiefe, ein
Gärtchen von gleichen Dimensionen, so zahlst
Du für Dein Grundstück zweitausend Märkel-
chen. Wir nehmen an, der lieben Baukunst
sei die Zwangsjacke einigermaßen gelockert
so kannst Du Dir für etwa 150 Mk. pro
Quadratmeter 7 große und 3 kleinere Räume
schaffen —■ so unmäßig „herrschaftlich"
brauchen sie ja nicht ausgestattet zu werden
— und für 18 000 Mk. könntest Du singen:
„My house is my Castle". Für Leute mit
weniger Geld im Beutel ließe sich bei etwas
kleineren Dimensionen für den halben Preis
noch ein siebenräumiges Häuslein herstellen.
„Es war ein Ziel, aufs innigste zu wünschen!"
sagt Hamlet. Wo viele Menschen auf engem
Raum zusammenwohnen, wird es immer Reibe-
reien geben — aber es ist doch ein Unter-
schied, ob man bloß Nachbarn rechts und
links hat, oder dergleichen auch über dem
Kopfwehhaupt und unter den Filzsohlen. Eige-
ner Eingang, eigene Treppe, eigene Wasch-
gelegenheit und Bleiche — was meint ihr
dazu, verehrteste Hausfrauen? Und dann
keine Mansardenreihe, wohin die Dienst-
mägdelein aller Etagen zwischen zehn und elf
hinaufsteigen und eine Ratsversammlung ver-
anstalten, ob sie sich hübsch ins Bett legen
oder noch einen gemeinschaftlichen Nacht-
bummel in die Wege leiten sollen.

Wie gibt es noch immer so nette oft
winzige Häuschen in den alten Städten! Der
nicht ganz moderne Mensch flüchtet hin und
wieder aus seinem Etagenviertel zu ihren
Überbleibseln, um sein Auge an einer richtigen
Straßensilhouette oder orginellen Baugruppe
zu erquicken und herzustellen. (Abb. 2).*)

Da liegen sie unter uns, Kirchen, Verwal-
tungsgebäude und Menschenbehausungen im
grünen Gürtel von Ulmen und Wiesen. Aber
ist Utrecht — Ultrajectum — nicht ursprünglich
eine römische Gründung, ein Fort zur Sicherung



*) Abbildung 2 stellt ein einfaches Utrechter Giebel-
häuschen dar: vielleicht findet sich später Gelegenheit
mehr derartige Überbleibsel aus dem XVI. und
XVII. Jahrh. der Lesern vorzuführen.
 
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