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Die Dioskuren: deutsche Kunstzeitung ; Hauptorgan d. dt. Kunstvereine — 18.1873

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https://doi.org/10.11588/diglit.12974#0121

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Alten hätten so Großes nie erreicht, wenn sie nicht, durch die
bewegende jeweilige Zeitidee naturgemäß auf einen beschränkten
Kreis hingewiesen, sich schul- und zunftmäßig eng an das Vor-
handene geschlossen hätten und jeder erst dann den vom Vor-
gänger überkommenen Styl hätte nach persönlicher Neigung aus-
bilden können, wenn ihm das Vorhandene geläufig war. Man
ging zu Zeiten sogar in der ausschließlichen Anerkennung des
Zeitgemäßen so weit, daß man glaubte, Meisterwerke der Ver-
gangenheit vernichten zu dürfen.

Heut' ist es anders geworden. Es hat nie eine Zeit ge-
geben, die mit so selbstloser Toleranz alle Arten der Ausdrucks-
weise anerkennt, als die Gegenwart. In dieser Vielseitigkeit
zeigt sich aber auch ein Mangel an Schöpferkraft: unsere Zeit
ist vorzugsweise kritisch und eklektisch.

Je weiter wir in der Kunstgeschichte zurückgreifen, um so
mehr war es zunächst die Architektur, die in den öffentlichen
Gebäuden Trägerin des Styls, als Ausdruck der leitenden Zeit-
Idee, wurde und auf die übrigen bildenden Künste und deren
Styl maaßgebend einwirkte; schon durch den abhängigen Platz,
den diese in der Architektur einnehmen, waren sie dazu genöthigt.
Mit der Freiheit des individuellen Privat-Lebens haben sich auch
Skulptur und Malerei frei gemacht; und die Architektur hat
ihre Herrschaft, die sie bisher selbst auf alle Erzeugnissen der
Industrie bis zum Stickmuster und Kochlöffel hinunter übte,
eingebüßt. Sie selbst entlehnt ihre Formen bald dieser, bald
jener Epoche, und meist wird der Künstler nur durch Studium
und Reflexion abgehalten, Ungehöriges zusammenzuschweißeu,
was dem Ungeschicktesten in alter Zeit nicht passiren konnte.

Das Handwerk hat, trotz der krampfhaften Bemühungen
ihrer kapriciösen Alleinherrscherin, der Mode, keine neuen For-
men auftreiben können; es ist auf keinem Felde gelungen, un-
serer Zeit einen überzeugend zeitgemäßen Styl abzuringen. Den
Kulturhistoriker könnte diese Beobachtung zu interessanten Re-
sultaten führen: vielleicht würde er den Grund darin flnden,
daß es erst der Zukunft Vorbehalten sei, all' das überreich sich
ansammelnde Material der Erkeuntniß der neuen Zeitaufgabe —
der Idee der politischen Freiheit — dienstbar zu machen und
alle Verhältnisse von dieser durchdringen zu lassen, während in
alten Zeiten allen Lebensbeziehungen eine von der Zeitidee ab-
hängige Bedeutsamkeit beigelegt wurde.

Nach der antiken Zeit diente bis zum XVI. Jahrhundert
die Kunst fast ausschließlich der Kirche, und wenn sie dabei auch
hie und da im Handwerk stecken blieb und in Konventionalität
verfiel — d. h. die einmal angenommene Formen ohne selbst-
ständigen Zeugungsprozeß reproducirte —, so wird sie doch im
Allgemeinen gehoben und getragen von der die ganze gebildete
Welt bewegenden großen Idee. Nach der Reformation rang
sich das Individuum zu selbstständiger Gefühlsäußerung los;
wenn es noch durch die Umstände in Lehnspflicht der Kirche
gehalten wurde, wußte es doch das Angenehme mit dem Un-
vermeidlichen zu verbinden. Ein Paul Veronese mußte auch
Kirchenbilder malen, aber diese Vorwürfe dienten ihm nur als
Vorwand, sich in der Freude an dem Glanz der stolzen Venezia
ergehen zu dürfen. So sind's oft untergeschobene Kinder. Bis
die allgemeine Meinung gegen die Mannigfaltigkeit des Stoffes
toleranter wurde, da sie nicht mehr so durch die Hierarchie

beengt war, verschafften die Künstler ihren persönlichen Be-
strebungen im Kirchenhabit Eingang. Mit der zunehmenden
Virtuosität kommt es nun auch öfter vor, daß die Idee aus-
bleibt und der Künstler in seiner Lust am Malen es versäumt,
auf einen besondern Einfall zu warten. Dennoch haben diese
Bilder eine Großartigkeit der Technik und einen Reiz des Vor-
trags, der uns noch heute imponirt.

Nachdem nun so diese Einheitlichkeit der Strömung, die
jeden Einzelnen mitnahm, aus der Welt gewichen ist, gilt es
vor allen Dingen, diese nicht mehr wiederzubriugende Kraft durch
eine andere — die Selbstständigkeit der Einzelnen zu ersetzen.
Solche Selbstständigkeit zu gewinnen, sind aber die heutigen
Bildungsmittel des Künstlers keineswegs förderlich. Auf der
Akademie werden die Naturstudien weder naiv, noch gründlich
genug betrieben, um dem Künstler eine Herrschaft über die
Natur zu ermöglichen. Bei der weiteren Entwickelung des
Schülers wird ihm ein Styl — wie er gerade die Anstalt be-
herrscht — „beigebracht", und nur zu oft hört man die Klage:
Könnte ich doch das vergessen, was ich gelernt habe! (Es ist
hier der feine Unterschied zwischen Styl und Manier zu be-
achten: dieselbe Ausdrucksform, die — aus dem Innern des
Stoffes hervorgegangen — Bedürfniß war, sinkt vom Styl zur
Manier herab, wenn sie von außen Einem angewöhnt wird.)

Dieser Styl, wie ist er nun entstanden? In der Zopfzeit
hatte der pathetische Pomp und die ausschweifend verschwenderische
Formenverwendung bis zur Erschöpfung überhand genommen,
und der übersättigte Gaumen ruhte sich in der dürftigen Zier-
lichkeit der napoleonischen Zeit ein wenig aus; da fand das
Verlangen nach freier und doch maaßvoller Form ihre Vertreter
in einigen ausgezeichneten Männern, die aus Italien Anregung
zu neuem Schaffen holten. Unter dem Einfluß dieser Männer
hat sich die Art, wie man heutzutage historische Gegenstände behan-
delt, ausgebildet und der Corneliauische (für die religiöse Kunst
der Overbeck'sche) Styl sind unter verhältnißmäßig geringen Mo-
difikationen maaßgebend geworden. Diese Art, die Körperformen
und Gewänder aufzufassen, diese Art der Linienführung und der
Affektsäußerungen gewöhnen sich die jungen Leute an. In diese
Form (die den Bedürfnissen des Schöpfers derselben, aber auch
nur diesem angemessen war), die die jungen Leute einmal ge-
lernt haben, sind sie wohl oder übel gezwungen, alle ihre Ge-
danken auszusprechen. Die zu behandelnden Gedanken sind aber
nicht mehr einförmig, wie ehedem vor der Reformation, und die
heterogensten Dinge müssen nun in derselbe Maske auftreten.

Vor allen Dingen wäre es, um diesem Uebelstande abzu-
helfen, die Pflicht der Akademien, ihre Institutionen so zu ge-
stalten, daß sie die Freiheit des Einzelnen bei tüchtiger Ausbil-
dung des Könnens befördern, damit ihm sowohl die freie Wahl
des Motivs als auch die selbstständige Ausführung möglich wird.
Vor allen Dingen ist die Berufung geistvoller Kunsthistoriker an
die betreffenden Lehrstühle der Akademie ein dringendes Bedürf-
niß; denn nur durch einen weiten, freigebildeten Blick ist's dem
Künstler möglich, gegen die Sireuenstimme der Mode fest zu
bleiben und seinen Sinn für das Aechte in der Kunst im
Gegensatz zu dem vorübergehend Blendenden zu schärfen.

Dann muß das Studium in den verschiedenen Klassen so
eingerichtet werden, daß der Charakter einer trägen Tretmühle
 
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