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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 27.1910-1911

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Michel, Wilhelm: Puppen von Lotte Pritzel
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https://doi.org/10.11588/diglit.7379#0344

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LOTTE PRITZEL—MÜNCHEN.

Puppen für die Vitrine.

PUPPEN VON LOTTE PRITZEL.

VON WILHELM MICHEL—MÜNCHEN.

Die Puppe ist eine Bürgerin der neuen Zeit.
Einer Zeit, die das Künstliche innig liebte,
besonders in ihren Anfängen, weil sie des Natür-
lichen, des Lebens, ein wenig müde war. Ja,
es ist wirklich wahr, daß von so einer winzigen
Erscheinung wie es die neue Liebe zum Puppen-
haften ist, Wege führen zur Gesamtpsychologie
unserer Epoche. Wie kommt die moderne Ab-
neigung, oder sagen wir: das moderne Miß-
trauen gegen das Leben zustande ? Man müßte
da von der Philosophie des vorigen Jahr-
hunderts reden, von den Maschinen, von der
Entwertung der Ideale, von der Kunst des
Naturalismus, vom Ästhetentum. All das soll
hier nicht geschehen, in der Voraussetzung, daß
jeder an sich schon die modernen Zweifel am
Leben, am Regelrechten, Gesetzmäßigen und
Natürlichen erfahren hat. In der Flucht vor
dem Leben, dessen laute, pathetische Art die
feinen, jungen Geister des fin du siecle beleidigte,
wurden ganze Scheinwelten geschaffen, Welten
voller Prunk und Schönheit, ohne den unrein-

lichen „Erdenrest", der dem Wirklichen immer
anhaftet. Die moderne Skepsis mokierte sich
über die lärmenden Gebärden des Lebens, über
seine Schweißgerüche und seine Formlosig-
keiten. Und mit einem ironischen Lächeln ging
sie zum Künstlichen über, das den schönen
Schein lebendiger Form mit dem Adel des
Nichtseins verbindet.

Sieht sich die Puppe nicht ganz wie eine
liebenswürdige Symbolisierung des modernen
Ästhetizismus an? Beide verneinen den Inhalt,
das Leben, zugunsten der Form. Beide sind
letzten Grundes von satanischem Geschlecht
und Wesen. Ist es ein Zufall, daß hier bei
Lotte Pritzels Puppen immer dieselbe, an
Beardsley erinnernde Physiognomie wieder-
kehrt? Und nicht nur dies. Auch die Kostü-
mierung erweckt auf Schritt und Tritt Er-
innerungen an die bizarre, zärtlich verruchte
Linie des großen Dandy und Künstlers. Der
Einfall aber, diese übrigens nicht nur von
Beardsley entwickelte und gepflegte Linie

1911. IV. 7.
 
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