Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 27.1910-1911

DOI Artikel:
Zimmermann, Ernst: Kunst und Kultur
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7379#0496

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Kunst und Kultur.

dies ist die Zeit, da die Gesittung, die Kul-
tur bereits soweit gerückt ist, daß die Frau, die
Dame, die bisher gesellschaftlich doch immer
ziemlich ein Leben für sich geführt hatte, unbe-
sorgt und unangefochten in das gesellschaftliche
Leben eintreten kann, ja so sehr, daß sie bald
zum eigentlichen Mittelpunkt desselben wird,
und nun alles in der Kultur, Unterhaltung, Wis-
senschaft, Literatur und Kunst auf jenen Grund-
ton gestimmt wird, der in erster Linie den
Frauen zusagt, und darum auch den damaligen
Männern, die an dem geselligen Verkehr mit
ihnen ein so ungewohntes Gefallen fanden. Da-
mit aber auch die Zeit, in der sich nun mit
einem Male auch alle Kunst wandelt. Alle Ein-
fachheit, alle Größe, alle Gradlinigkeit, alle
Farbenreinheit ist nun dahin. Statt dessen
Kurven und Schnörkel und Muschelwerk, das
jede größere Fläche aufhebt, die Farben alle
weich und licht, aber fast alle gebrochen, so
daß man kaum noch ein reines Rot, ein reines
Blau erblickt. Es ist, als ob das Auge keinen
lebhaften Effekt mehr, keine sich scharf einprä-
gende Linie, keine leuchtende Farbe mehr
vertragen könnte, dagegen sich sehnt nach
gänzlich neuen Wirkungen, die aber dezent und
raffiniert zugleich auftreten müssen, nach dem
Reiz neuer, nie gesehener weichen Kurven und
ähnlicher Farbenverbindungen. Das Kapriziöse
der Frau aber dominiert an allen Ecken und
Enden und lechzt nach immer neuen Befriedi-
gungen. Und so ist dies das ausgesprochene Zeit-
alter des Raffinements, des pikant Neuen ge-
worden, über dem aber immer versöhnend und
verklärend die zarte Kunst weiblicher Grazie
und Schönheit schwebt. Und dies alles hat
dann auch der folgende Stil, der unter dem Ein-
fluß der wieder erwachenden Antike wieder
ein wenig erstarkte Stil des Louis XVI. noch
nicht verloren; nur daß das Kapriziöse damals
für lange Zeit verschwand. Erst das in der Re-
volutionszeit geborene Empire hat dann diese
ganze Kultur und Kunst hinweggefegt, und jetzt
wieder, wo der Mann allein etwas galt, mit
Hilfe der Antike einen ganz männlichen Stil an
deren Stelle gesetzt.

Was folgt aus diesen Beispielen, die keine Aus-
nahmefälle, nur besonders deutliche sind, für
unsere Zeit und unsere Kunst mit unerbittlich
logischer Notwendigkeit? Auch sie muß eben,
wofern sie wirklich mit unserem Leben enger
verwachsen und ein wirkliches Teil desselben
werden will, als unabänderliche Grundlage von
vornherein eine gewisse Verfeinerung, ein ge-
wisses Raffinement annehmen, das dem unserer
Zeit oder vielmehr derjenigen Kreise, für die
heute unsere Kunst in erster Linie arbeitet —

denn eine „Volkskunst", für alle Schichten un-
seres Volkes bestimmt, kann es heute nicht
geben — annähernd entspricht. Sie darf für
gewöhnlich keine Wirkungen hervorbringen,
keine Eindrücke uns aufzwingen, die gar zu weit
entfernt stehen von denen, an die uns sonst
unser kulturelles Leben gewöhnt, die uns so
sehr erschrecken, daß wir darüber jede Ruhe
und Sammlung zum Genuß verlieren. Diese
Forderung gilt in der Kunst immer, mit ganzer
Strenge aber für jene ihrer Gebiete, die wirk-
lich mit unserem Leben völlig verwachsen,
die unsere tägliche Umgebung, unsere stetige
Begleitung ausmacht: für die Architektur und
das Kunstgewerbe, vor allem die Innenkunst,
die Kunst unseres Heims. Mögen da draußen
in jenem Reich der Kunst, das sich selbst Zweck
ist, in jenen Werken der Malerei und Plastik,
die bloß um ihrer selbst willen geschaffen wer-
den, die keine eigentlich schmückende, deko-
rative Bedeutung für unser Leben besitzen,
deren Ziel darum auch meist nicht unser Haus,
sondern das Museum, die Galerie ist, immer-
hin Töne und Stimmungen angeschlagen werden,
die zu denen unseres gewöhnlichen Lebens in
keiner Weise passen. Es sei! Denn in Museen
kann man gehen, wie ins Theater, ins Konzert, mit
der Absicht, eine andere Welt in sich aufzuneh-
men wie die des Alltags. Hier kann man sich
wie bei der Vorführung eines Dramas Wirkungen
aussetzen, die man im gewöhnlichen Leben
meidet, vorausgesetzt, daß eine wahre Kunst
sie verklärt und veredelt. Es ist Feiertagsstim-
mung, mit der man diese Stätten alle betritt,
in der man darum auch etwas Besonderes, Un-
gewöhnliches erleben kann. Die Kunst unserer
engeren Umgebung aber verlangt Harmonie in
sich selbst und mit uns selber, mit unserer ganzen
Lebensweise. Hier diese absichtlich derb und
kräftig, oder auf der anderen Seite absichtlich
raffiniert zu gestalten, würde Affektation sein,
eine Verstellung, die bald durch Überdruß oder
Ekel sich rächen und in sich zerfallen würde.
Eine solche Kunst würde Lüge sein.

Was aber ist nun das Kulturniveau, auf dem
wir augenblicklich stehen und dem sich auch die
Kunst unserer Zeit anpassen muß? Wir sind
unzweifelhaft keine Leute des frühen Mittel-
alters mehr und auch keine des raffinierten Ro-
kokos. Wir sind weder halbe Barbaren noch
mit allen Finessen und allen möglichen Tradi-
tionen gehetzte Aristokraten. Der Adel spielt
in unserem heutigen Kultur- und Kunstleben als
solcher ja überhaupt keine Rolle mehr. Seine
früher auf diesen Gebieten so allgemein tonange-
bende Stellung ist seit der französischen Revolu-
tion und ihren weiteren Folgen mit samt seinen

481
 
Annotationen