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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 29.1911-1912

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Brinckmann, A. E.: Raumbildung in der Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7012#0071

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Raumbildung in der Baukunst.

und gar plastisch konzipiert sind: den griechi-
schen. Der Unterschied zwischen griechischer
und römischer Architektur ist wohl lange er-
kannt; Jakob Burckhardt schuf das Wort vom
organischen und vom raumbildenden Baustil,
verwischte aber selbst die Gegensätzlichkeit
dieser Begriffe, als er den gotischen Baustil im
Gegensatz zu dem der Renaissance als raum-
bildenden einen organischen nannte. Der go-
tische Baustil bedeutet in der Entwicklung des
Raumes nur eine besondere Stufe: ein dienen-
des Element, die Konstruktion, wurde stark
auf Kosten des umschlossenen Raumes, und auf
diesem beruht eben die andere Ursache des
architektonischen Gesamteindruckes.

Man hat die Raumvorstellung als einen Kom-
plex von Bewegungsvorstellungen definiert, d.h.
von Vorstellungen, zu deren Gewinnung das
vermittelnde Auge sich hin und her bewegen
muß, also gleichsam das betrachtete Objekt
von wechselnden Standpunkten aus abtastet,
und deren Summe dann, durch das Hirn addiert,
die Raumvorstellung ergibt. Damit ist allenfalls
ein Vorgang konstruiert, nichts aber über das
Gefühl selbst gesagt.

Wir möchten die Fähigkeit des Menschen,
überhaupt räumlich zu empfinden, in Zusammen-
hang mit seinem Gefühl für das eigene mate-
rielle Gefülltsein bringen, denn wir bemerken,
daß in Momenten, wo dieses erlischt, ohne daß
die geistigen Funktionen ganz aussetzen, wie
ln leichten Ohnmächten oder im Traum, die
Räumliche Vorstellungskraft außerordentlich ab-
lmrut, sie dagegen in Zuständen physischer
trah- gSfähigkeit emporschnellt. Jeder kon'
rielle^C ^uske^ bringt uns dieses Gefühl mate-
n Gefülltseins und damit des eigenen Vo-
,Um^ns.zur Vorstellung, ohne daß der Augensinn
die ge"ngste Mitwirkung hat, und mit dem ersten
Armheben ist die Vorstellung des Volumens
außer uns, des RaumeSi gewonnen.

Dieses ursprüngliche Gefühl für Raum wird
nun von der Kunst in Erziehung genommen.
Das Auge übernimmt die Vermittlerrolle, indem
es als feinster Tastsinn, der ohne körperliche Be-
rührung ferne Gegenstände angreift, uns ermög-
licht, durch den umgebenden Raum nach allen
Richtungen uns zu bewegen und ihn auszu-
messen. Daß das Auge dabei lange nicht dl
Sicherheit bietet wie

ein direktes körperliches
Maßnehmen im Schreiten oder Armspannen, ist
eine alltägliche Erfahrung. Immer aber über-
trägt das Auge seine Eindrücke durch den ge-
samten Nervenapparat auf unsere ganze Körper-
lichkeit. Das Hirn erscheint nur der Schalt-
apparat räumlichen Empfindens, die Lust am
Raum verspürt unsere Brust stärker.

Eine Bemerkung sei eingeschoben. Entspre-
chend dem Gefühl für eigenes Gefülltsein kommt
eine Raumvorstellung nur durch Umgrenzung
zu stände. Ist eben gesagt worden, schon ein
Armheben vermittle ohne Hilfe des Auges uns
die Vorstellung des Raumes außer uns, so
nehmen wir dabei doch nur den Abschnitt auf,
den unser Arm durcheilt. Die Begrenzung ist
zwar nicht wirklich, doch — was für die Empfin-
dung das gleiche — vorgestellt. Auch die
Freiheit des Meeres wird durch Himmel und
Wasser ein umgrenzter Raum, und jede Ver-
unklärung, wie durch dichten Nebel, wird als
unbehaglich empfunden. Das Angstgefühl im
Finstern rührt nicht von Gespenstergeschichten
her, es entsteht aus der Empfindung, den Raum
fast verloren zu haben, und die Anstrengung,
unsere eigene Körperlichkeit zu konzentrieren,
steigert sich bis zum schweißgebadeten Ent-
setzen. Erst das körperliche Unbehagen preßt
aus dem Hirn angstvolle Vorstellungen. Im
Grunde ist die Vorstellung des unbegrenzten
Raumes, wenn auch mit diesem Begriff die
Philosophie und Astronomie operieren, unmög-
lich. Sie wäre die Verneinung unserer eigenen
Körperlichkeit.

Die Sehnsucht der Baukunst ist nun, Räume
abzugrenzen, in denen es den Menschen wohl
ums Herz wird. Sie verzehnfacht, ja verhundert-
facht sein eigenes Ausdehnungsbewußtsein, läßt
den Raum emporwachsen, dehnt ihn in ruhige
Breite, rundet ihn. Wir haben hier nicht ein-
zugehen auf alle die Hilfsmittel der Form zur
leichteren Gewinnung eines Raumvorstellungs-
besitzes, auf Gliederungen, Teilungen, Detail-
lierungen des raumumschließenden Materials,
von Wand, Boden und Decke, die die Vorstell-
barkeit des Raumes unterstützen, ja oft erst
ermöglichen. Ihre Bildungen sind geläufig,
leider allzugeläufig, ohne Verständnis für sie als
Funktionsausdruck, als geworden aus einem
bestimmten, mit Zeit und Rasse wechselnden
Körper- und Raumempfinden. Sie werden ge-
braucht wie die Phrase ohne Bedenkung des
Wortsinnes. Wir wenden uns vom einzelnen
Raum weiter seiner Verbindung mit anderen,
den gruppierten Räumen zu. Es ist selbstver-
ständlich, daß ein einmal aufgenommener Raum-
eindruck nicht beim Verlassen dieses Raumes
erlischt, sondern nachwirkt und die Apperzep-
tion eines folgenden Raumeindrucks beeinflußt.
Es macht einen Unterschied, ob wir vom Vor-
zimmer den Saal betreten oder umgekehrt. Die
Kunst einer guten Grundrißlösung besteht darin,
einzelne Raumeinheiten sich folgen zu lassen,
die in Beziehung zu einander stehen, sich nicht
gegenseitig erdrücken oder aufheben. Dies ist

1811/12 I. 6.
 
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