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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 29.1911-1912

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Frank, Wilhelm: Reise und Kunstgenuss
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https://doi.org/10.11588/diglit.7012#0082

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Reise und Kunstgenuß.

ARCHITEKT M. ZÜRCHER — FLORENZ.

LOGGIA DER VILLA RIPOSO DEI VESCOVI.

Verhaltens zugunsten einer glücklichen Passi-
vität. Man verläßt beim Antreten einer größeren
Reise nicht nur seinen Wohnort, sondern auch
die zahlreichen inneren Begrenzungen, die
Beruf, Sitte und örtliche Lebensbedingungen
rings um den Menschen aufhäufen. Indem
man die Begrenzungen aufgibt, gibt man
unter anderem einen wesentlichen Teil seiner
seelischen und geistigen Engen auf; man gibt
seine Vorurteile und — seine Dummheiten auf,
denn nicht nur dem Worte nach ist Begrenzt-
heit mit Beschränktheit verwandt.

Das alles ist bekannt, und jeder hat es an
sich erlebt. Aber nun kommt es darauf an, zu
erkennen, daß diese glückliche seelische Situa-
tion die ideale Geistesverfassung des Kunst-
genießenden darstellt. Kunstwerke, aus dieser
rezeptiven, vorurteilslosen, zugänglichen Stim-
mung heraus gesehen, geben in einer Minute
mehr von ihrem Geheimnis her als sonst in
einem Hundertfachen dieses Zeitraumes.

Dazu kommt, daß die Fähigkeiten der Auf-
nahme durch die mit jeder Reise verbundene

Übung sich rapide steigern. Es tritt eine Art
Dressur ein, die ihrerseits wieder die Begierde
nach Rezeption steigert. Der Erfolg sind jene
unverhältnismäßig gesteigerten, an Farbe und
Leben überhöhten Kunsteindrücke, die jede
Wanderung durch eine fremde Galerie liefert.
Das Erdreich der Seele ist aufgelockert. Mit
vollen Händen kann Same hineingestreut wer-
den; es wird doch weniger Saatgut verloren
als zu Hause, wo diese Vorbedingungen fehlen.

Unendlich wertvoll ist auch beim Kunstgenuß
auf Reisen die gleichzeitige Auffassung von
Kunst und dem Lande, dem sie entsprang. Ein
Ruisdael, im Mauritshuis im Haag gesehen,
wiegt zehn Berliner Ruisdaels auf. Denn dort
begegnet der Reisende auf Straßen und Plätzen
denselben Lichtverhältnissen, denselben atmo-
sphärischen Stimmungen, die die Gemälde des
Meisters prägen. Kunst und Leben fließen
wunderbar ineinander und bringen sich gegen-
seitig zu stärkster Eindruckskraft. Oder:
Deutschlands Galerien besitzen eine ganze Reihe
erstklassiger Rembrandts. Aber das einzige,

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